Das Bernuth-Buch



Das Jahr 1986 bot in mehrfacher Hinsicht Anlaß für unsere Familie, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, jährten sich doch in diesem Jahr eine Reihe von Ereignissen, deren Folgen noch heute für jeden einzelnen von uns – aber auch für die Entwicklung der Gesamtfamilie – von Bedeutung sind.

Es erschien daher der Mühe wert und der besonderen Bedeutung dieses Jahres angemessen, mit dem Bernuth-Buch ein Werk fortzusetzen, das frühere Bernuth-Generationen begonnen haben und nachfolgende vielleicht weiterführen werden: nämlich unserer Familie und all denen, die sich ihr verbunden fühlen, dieses Familienbuch vorzulegen.

Die ältesten erhaltenen Familiennachrichten in gedruckter Form stammen aus dem Jahre 1909 und sind als Anhang zu den 'Bestimmungen der Fritz von Bernuth'schen Familienstiftung' erschienen. Sie sind durch den Generalmajor Fritz von Bernuth (1819-1906) gesammelt worden. Über die von Fritz testamentarisch errichtete Stiftung, die im Jahre 1907, d.h. ein Jahr nach dem Tode des Stifters, ihre segensreiche Tätigkeit aufnahm, wird in Kapitel 13.2 berichtet.

Die Existenz dieser großherzigen Familienstiftung hat das zweifellos bei vielen Bernuths schon damals schlummernde Interesse an der Gesamtfamilie zum Leben erweckt und schließlich zum ersten Familientreffen im Jahre 1909 und zwei Jahre später zur Gründung des Familienverbandes geführt.

Die erste Verwaltungskommission der Stiftung bestand aus Bernhard von Bernuth, Besitzer von Borowo, Ernst von Bernuth, Generalleutnant z.D. in Berlin, und Fritz von Bernuth, Regierungsrat in Koblenz, und war identisch mit dem ersten Vorstand des 'von Bernuth'schen Familienverbandes e.V.'. Der Regierungsrat Fritz aus Koblenz hat nicht nur nach dem ersten Familientag den Entwurf der Verbandssatzung ausgearbeitet – der dann beim zweiten Familientag am 14. Januar 1911 in Berlin einstimmig angenommen wurde und bis zum ersten Familientag nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1955 in Kraft war –, er begann auch zu der gleichen Zeit mit der systematischen Sammlung aller noch fehlenden genealogischen Daten und sonstigen Informationen über die Familie.

Das Ergebnis dieser jahrelangen Arbeit, deren Fertigstellung durch den Ersten Weltkrieg verzögert wurde, ist allen Mitgliedern unserer Familie als die im Jahre 1922 erschienene 'Geschichte der Familie von Bernuth' bekannt, die innerhalb der Familie wegen ihres Einbandes auch das 'Grüne Buch' genannt wird.

Auf 250 Seiten wird im Grünen Buch ein umfassendes Bild der Familie gezeichnet, von ihren ersten, urkundlich nachweisbaren Anfängen in Groß Rosenburg bis zu ausführlichen Schilderungen der Erlebnisse einzelner Familienmitglieder während des Ersten Weltkrieges. In einem umfangreichen Teil sind genealogische Daten zu allen Familienmitgliedern, häufig ergänzt durch kürzere oder längere Lebensbeschreibungen, enthalten, ohne die die Genealogie in Kapitel 2 in dem vorliegenden Bernuth-Buch nicht annähernd so vollständig hätte sein können.

Wenn dies Bernuth-Buch nicht lediglich eine Fortsetzung bzw. Ergänzung des Grünen Buches ist, so, wie sie bereits 1935 gewünscht wurde und auch danach bei vielen Familientagen auf der Tagesordnung stand, dann liegt das hauptsächlich an zwei Gründen: zum einen war durch den mit den Jahren wachsenden zeitlichen Abstand zum Erscheinungsjahr des Grünen Buches vieles überholt und nicht mehr aktuell; zum anderen erschien es nach mehr als sechs Jahrzehnten mit ihren tiefgreifenden Änderungen, besonders auch für unsere Familie, einfach notwendig, die Akzente neu zu setzen und schließlich auch, Versäumtes nachzuholen – so fehlt z.B. zu dem so bedeutenden Thema 'Auswanderung' im Grünen Buch bis auf wenige kurze Erwähnungen jeglicher Hinweis. Das gilt auch für die Erwähnung der bürgerlichen Linien unserer Familie.

Das Ergebnis von acht Jahren intensiver Wochenend- und Urlaubsbeschäftigung, von vielen persönlichen Gesprächen, besonders in den USA, aber auch z.B. in Bangladesch und Bangkok, von viel Korrespondenz zur Beschaffung von Fotos, Unterschriften und anderer Unterlagen - all das liegt nun als Bernuth-Buch vor, das deshalb so genannt wird, weil es nicht nur die Geschichte unserer Familie darstellen will, sondern darüber hinaus als echtes Familienbuch ein Nachschlagewerk für alle Fragen sein soll, die die Familie betreffen.



Kapitel 1:  Die Bernuthsche Familie im Wandel von 3 1/2 Jahrhunderten


Bereits im Jahre 1468 – also vor 518 Jahren – gab es im Residenzstädtchen Zerbst im Magdeburgischen einen Ratsherrn namens Bernuts. Zerbst liegt an der Nuthe, etwa zwanzig Kilometer nordöstlich von Groß Rosenburg.

Im Jahre 1531, vor mehr als 450 Jahren, wurde ein Thomas Bernutz an der damals noch jungen Universität zu Wittenberg immatrikuliert. In Wittenberg fanden im 16. Jahrhundert noch weitere Immatrikulationen von Trägern ähnlicher Namen statt:

        1539 (nur Jahr bekannt) .....    Jacobus Bernütz aus Wittenberg
        16. Januar 1541 .............    Martinus Bernutz aus Wittenberg
        10. Januar 1584 .............    Matthaeus Bernutius aus Wittenberg
        August 1599 .................    Michael und Elias Bernutius aus W.
        12. Februar 1607 ............    Andreas Bernutz aus Wittenberg

Weitere Träger dieses in verschiedener Schreibweise auftretenden Namens, die in Wittenberg immatrikuliert wurden, stammten aus den Orten Belzig (oder Beelitz), Brück, Eisleben und Zeitz. Nachforschungen bei den betreffenden Pfarrämtern im Jahre 1984 sind jedoch erfolglos geblieben.
Auch in Wittenberg wurden Nachforschungen im Kirchenbuchamt angestellt, um evtl. Verbindungen zu den Groß Rosenburger Bernuths herstellen zu können – ebenfalls ohne Erfolg.


1.1 Groß Rosenburg

Die erste urkundliche Nachricht über unsere Familie ist enthalten im Geburtsregister von 1655 des evangelischen Pfarramts in Groß Rosenburg an der Saale, im Kreis Schönebeck,Bezirk Magdeburg, in der heutigen DDR. Die Eintragung lautet: "Hans Barnuhts Söhnlein getauft, den 11. März, ... welches den Namen Johannes erhielt".
Da das Taufregister nur die Jahre 1655 bis 1662 umfaßt und erst von 1667 an lückenlos fortgesetzt ist, und da die Trau- und Sterberegister bis 1672 verlorengegangen sind, läßt sich der Ursprung der Familie nicht weiter zurückverfolgen. Indessen fand sich in dem im Archiv von Klein Rosenburg enthaltenen Erbbuch ein Vermerk, aus dem hervorgeht, daß jener Hans Barnuht damals in Groß Rosenburg angesessen war.
Das Erbbuch wurde im Jahre 1667 aufgrund mündlicher Überlieferung begonnen und 1678 beendigt; aus ihm erfahren wir, daß Groß Rosenburg – anscheinend vor dem Dreißigjährigen Kriege – 41 Landstellen hatte, während zur Zeit der Abfassung des Erbbuches nur noch 23 vorhanden und die übrigen Stellen, vermutlich infolge der Wirren des Krieges, noch "wüste und unbewohnt" waren.
An fünfter Stelle wird aufgeführt Hans Bernuth, "dessen Wohnhaus, Hoff und Garten liegen an der Amts Schmiede und Gottfriedt Trappen nach der Gr. Rosenburger See hin. Der vorige Inhaber hat Bernd Schuster geheißen, Und gehört dazu An Wiesenwachs 3 Morgen in Langmaßen, neben Carle von Ingersleben und Andreas Wilken."
An jährlichen Abgaben hatte Hans 4 Taler, 12 Silbergroschen 5 Pfennige zu zahlen. Seit wann er auf seiner Scholle gesessen hat und woher er eingewandert war, darüber fehlt jede Nachricht; da der Chronist des Erbbuchs aber noch seinen Vorgänger Bernd Schuster nennt, haben die Bernuths den Hof zwischen der Amtsschmiede und Gottfriedt Trappen jedenfalls nicht von ihrer Väter Zeiten her besessen. Das Geburtsjahr des Hans ist uns wegen des Fehlens der Geburtsregister nicht bekannt; wir können im Hinblick auf seine uns dem Namen nach unbekannte Ehefrau, deren Beerdigung in ihrem 56. Lebensjahre beurkundet und die hiernach 1634 geboren ist, lediglich den Schluß ziehen, daß er etwa um 1630 geboren sein mag.

Die Geschichte unserer Familie läßt sich also rund dreieinhalb Jahrhunderte zurückverfolgen. Es war zuerst Fritz4.9), dessen stark entwickelter Familiensinn das Fehlen jeder Kunde über den Ursprung unserer Familie als bedauernswerten Mangel empfand und der daher als achtunddreißigjähriger Divisionsadjutant auf einer Urlaubsreise von Erfurt aus im Jahre 1858 seinen Onkel, den Oberstleutnant a.D. Fritz3. in Hamm besuchte. Von ihm, dem letzten noch lebenden Sohn von Jakob Christian, erfuhr er, daß dieser in Groß Rosenburg geboren und in Hamm gestorben war. Weiter vermochte der 86jährige unverheiratete Onkel nichts anzugeben; allein dieser Fingerzeig genügte, um mit den Nachforschungen zu beginnen und die erste Aufstellung eines Stammbaumes zu ermöglichen.
Das Interesse an der Familie verstärkte sich bei Fritz4.9), dem späteren Generalmajor z.D., und fand seinen Höhepunkt in der 1897 von ihm testamentarisch errichteten "Fritz von Bernuth'schen Familienstiftung", über die in Kapitel 13.2 Näheres berichtet wird.

"Groß Rosenburg", so heißt es weiter im Grünen Buch, "ein weitgebautes freundliches Pfarrdorf von 1800 Einwohnern, liegt am rechten bewaldeten Ufer der Saale, etwa zehn Kilometer oberhalb deren Mündung in die Elbe. Die Bevölkerung betreibt Ackerbau und Schiffahrt ...."
Groß Rosenburg konnte im Jahr 1965 seine 1000-Jahr-Feier begehen und blickt auf eine lange und bewegte Vergangenheit zurück. Das neuwerdende Stift Magdeburg erhielt am 27. März 965 von Otto dem Großen die Lehnsgerechtigkeit über den ursprünglich am nördlichen Ende des alten Dorfes liegenden herrschaftlichen Hof. Die Urkunde hierüber ist in Ingelheim ausgestellt. Im Jahre 1406, als die anhaltischen Fürsten Albert und Bernhard durch den Magdeburgischen Erzbischof Günther bei Calbe eine Niederlage erlitten, ward Groß Rosenburg fast ganz vernichtet.
Wahrscheinlich wurde bald nach dieser Unglückszeit das Dorf in seiner heutigen Form angelegt. Die im Jahre 1586 erbaute jetzige Kirche mit 625 Sitzplätzen hatte nach dem Siebenjährigen Kriege eine erhebliche Erweiterung erfahren und wurde im Jahre 1911 im Innern erneuert. In dem ursprünglichen Teil liegt die feuersichere Sakristei und darüber das Amtschor, das ausschließlich den Adeligen für ein jährliches Locarium gehörte. Die Mensa des Altars hat zwei eingemeißelte Kreuze in der Mitte der Sandsteinplatte, ein Zeichen, daß ein Bischof die Kirche einst geweiht hat. In dieser Kirche sind also während eines Jahrhunderts unsere Vorfahren getauft, konfirmiert und getraut worden; von hier aus wurden sie zur letzten Ruhe geleitet. Weder Grab noch Grabstein irgendeines Vorfahrs unserer Familie ist erhalten geblieben. Während unser Name in der uns heute geläufigen Schreibweise in das Erbbuch von Klein Rosenburg eingetragen wurde, weisen die Kirchenbücher ursprünglich die Schreibweise "Barnuht" und "Barnut" auf, und erst in einer Heiratsurkunde aus 1689 erscheint der Name "Bernuth". Wer die harte Aussprache der Landbevölkerung jener Gegend kennt und sich vergegenwärtigt, daß Kirchenbucheintragungen nur aufgrund mündlicher Erklärungen abgegeben wurden, wird die Schreibweise Barnuht erklärlich finden.

Dreizehn Jahre nach Erscheinen des Grünen Buches berichtet Hans-JoachimIII 5.2) (5)c(-Potsdam) über einen Besuch in Groß Rosenburg in den 'von Bernuth'schen Familienblättern':
"Im August dieses Jahres nahm ich als Feldwebel d. Res. an dem Manöver der 13. Inf. Div. in der Gegend nordostwärts des Harzes teil. Eines Tages lagen wir in Nienburg a.d. Saale im Quartier und hatten einen wohlverdienten Ruhetag. Mein Quartierwirt besaß ein Auto und so bat ich ihn, mit mir nach dem nahe gelegenen Groß Rosenburg zu fahren. Es war ein herrlicher Sommertag, als ich als erster Bernuth nach wer weiß wieviel Jahrzehnten in den Ort kam, in dem 100 Jahre lang unsere Ahnen nachweislich gelebt haben. Schnell freundete ich mich mit dem Gemeindediener an, einem alten Kavallerie-Wachtmeister von echtem Schrot und Korn. Er zeigte mir die für uns wichtigen Urkunden im Original, streifte mit mir auf dem schönen alten Friedhof umher, kauerte mit mir getreulich vor allen alten Grabsteinen, auf denen ich – mit Messer und Grasbüschel bewaffnet – nach unserem Namen suchte. Wohl fanden wir Grabsteine aus der in Frage kommenden Zeit, unseren Namen aber nirgends.
Dann traten wir in die Kirche. Sie ist innen noch genau so, wie unsere Väter sie gekannt haben. Besonders entzückt hat mich der Taufstein aus dem Jahre 1584, und ich gab mich ganz dem Augenblick hin, an der Stelle zu stehen, wo unsere Ahnen während 100 Jahren getauft worden waren, wo 70 Jahre lang zwei Bernuths – Vater und Sohn – allsonntäglich den Orgeldienst versahen, von wo aus sie zur letzten Ruhe geleitet wurden oder hinausgezogen waren in die weite Welt.
Im Ort war Erntedankfest. Die breite Straße hinunter zogen die letzten, festlich geschmückten Erntewagen, oben drauf die Erntekronen, singend und jauchzend die Groß Rosenburger. Ein Anblick – nichts besonderes! Und doch! Ich kannte das Dorf erst seit zwei Stunden, aber ich hatte das Empfinden: irgendwie gehörst Du zu diesen Menschen, irgendwie hast Du hier Heimatrecht. Ich bin nicht sentimental, aber der Besuch in Groß Rosenburg hat mich tief gerührt."
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Es gilt über einen weiteren Besuch in Groß Rosenburg zu berichten, fast fünf Jahrzehnte später: im März 1984. Noch immer stand die alte Kirche, innen und außen unverändert, inmitten des alten Friedhofes, auf dem die alten Grabsteine vom hohen Gras fast überwuchert wurden; noch immer überragte der kurze, spitze Glockenturm die Häuser des Dorfes, nur die Bäume vor der Kirche waren so hoch und dicht geworden, daß man die Kirche im Sommer von der anderen Seite der Hauptstraße, vom 1712 erbauten Pfarrhaus aus, kaum mehr sehen konnte. Von der Treppe dieses Pfarrhauses ist auch das Foto aufgenommen worden, welches im Grünen Buch abgedruckt ist.
Der junge Pfarrer, der mit seiner Frau und seinen drei kleinen Söhnen im Pfarrhaus wohnte, erwies sich als freundlicher und verständnisvoller Gastgeber, als Wolf DietloffIII 9.5)(7)c2 fünf Tage in Groß Rosenburg weilte, um die alten Kirchenbücher erneut einzusehen und auch sonst am Ort und in der weiteren Umgebung Nachforschungen anzustellen.
Kirche und Pfarrhaus scheinen die einzigen Orte zu sein, denen die Zeit nichts anhaben konnte. Der freundliche Eindruck des Ortes, von dem im Grünen Buch berichtet wird, die singenden und jauchzenden Groß Rosenburger – beides erscheint dem heutigen Besucher in einem anderen Licht. Der sozialistische Alltag in der Deutschen Demokratischen Republik hat seine graue Farbe auch über Groß Rosenburg wie über so unendlich viele Dörfer und Städte in diesem Teil Deutschlands ausgebreitet. Die heute auf 2800 angewachsene Zahl der Einwohner arbeitet in den landwirtschaftlichen Kombinaten oder in Magdeburger Betrieben. Die Fährschiffahrt spielt keine Rolle mehr. Der sonntägliche Gottesdienst in der Kirche wird nur noch von höchstens 25 Kirchgängern besucht, die Zahl der Konfirmanden ist auf drei bis vier pro Jahr zurückgegangen....

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Über das Leben unserer Vorfahren in Groß Rosenburg ist uns nur überliefert, daß sie Lehrer waren und über Jahrzehnte die Kirchenbücher geführt haben. Vielleicht vier oder mehr, mit Sicherheit aber drei Generationen Bernuths wurden dort geboren. Selbst wenn Hans Barnuht, der Stammvater unserer Familie, nicht in Groß Rosenburg geboren sein sollte, so ist doch anzunehmen, daß sein Geburtsort nicht allzuweit entfernt liegt. Im 17. Jahrhundert war das Reisen beschwerlich, und nur selten wechselte man seinen Wohnort. Andererseits verursachten die Umstände des Dreißigjährigen Krieges viele freiwillige oder erzwungene Ortsveränderungen für die damaligen Menschen, so daß über die weiter zurückliegende Herkunft unserer Familie nichts gesagt werden kann.
Das vierte und letzte Kind von Hans, der zwischen 1662 und 1667 in Groß Rosenburg geborene Christian, wird bereits 1688 in der Taufurkunde seines ältesten
Sohnes als Lehrer aufgeführt; sein Geburtsjahr wird demnach näher an 1662 als an 1667 liegen. Als Christian 1712 knapp fünfzigjährig starb, folgte ihm sein zweiter Sohn Johann Heinrich – knapp zwanzigjährig – unmittelbar im Lehreramte nach und übte dieses Amt bis zu seinem Tode im Jahr 1754 aus. Vater und Sohn sind demnach über 66 Jahre ununterbrochen in Groß Rosenburg als Lehrer tätig gewesen. Noch siebzig Jahre nach Johann Heinrichs Tod gedachte der Pastor Zehne in seiner Groß Rosenburger Chronik, nachdem er Christian Bernuth senior und Heinrich Bernuth junior als die beiden ersten Lehrer des 18. Jahrhunderts aufgeführt hatte, des letzteren ganz besonders als eines "treuen Lehrers". Neben dem Amte des Lehrers gehörten zu den Aufgaben der Bernuthschen Männer in Groß Rosenburg die Führung der Kirchenbücher. -
Doch im Grünen Buch heißt es weiter: "Für unsere Familie ist er mehr, denn wir gedenken seiner in Dankbarkeit und Verehrung nicht nur wegen seiner Berufstreue, die er auf die ganze Familie bis zum heutigen Tage vererbt hat, sondern ganz besonders deshalb, weil er als weitblickender Mann und treusorgender Familienvater seinen Söhnen eine vortreffliche Erziehung gab, die ihnen die höhere Beamtenlaufbahn eröffnete und sie so aus der Kleinbürgerlichkeit auf eine höhere Lebensstufe hob, womit die Zukunft unserer Familie entschieden war: Der Lehrer Heinrich Bernuth war der Vater des späteren Kriegs- und Domänenkammerdirektors

Johann Matthias von Bernuth

und des späteren Kriegs- und Steuerrates

Jakob Christian von Bernuth,

der Stammväter der jetzt noch blühenden beiden Linien."

Diese beiden Söhne des Lehrers Heinrich gingen – wie ihre Geschwister – zunächst bei ihrem Vater in die Schule und besuchten dann das Domgymnasium in Magdeburg.
Nach Beendigung der Schule wurden beide an der juristischen Fakultät der nahen Universität Halle immatrikuliert, Johann Matthias – er war zehn Jahre älter als sein Bruder – Ende des Jahres 1735 und Jakob Christian im Jahre 1747.

Mit ihnen verlassen wir nunmehr das kleine Dorf Groß Rosenburg, ohne zu vergessen, daß ihr Vater Heinrich dort noch bis an sein Lebensende 1754 als Lehrer wirkte. Mit ihm starb der letzte Träger unseres Namens dort, wo genau hundert Jahre zuvor der erste urkundliche Nachweis unserer Familie zu finden und bis auf den heutigen Tag erhalten ist.

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Was werden Besucher in weiteren vierzig, fünfzig Jahren über Groß Rosenburg zu berichten haben?



1.2 Preußische Beamte und Offiziere

Nach Abschluß ihrer Studien an der Universität Halle traten Johann Matthias im Jahre 1744 und sein Bruder Jakob Christian im Jahre 1752 in den preußischen Staatsdienst ein. Es waren die ersten Regierungsjahre Friedrichs des Großen, der 1740 König geworden war und der die noch heute sprichwörtliche preußische Verwaltung seines Vaters, des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., fortführte und ausbaute.
In der westlichsten Provinz des zersplitterten preußischen Königreiches, im Herzogtum Cleve, trat Johann Matthias 1745 die Stelle eines Kammersekretärs bei der Kriegs- und Domänenkammer Cleve an. Nach achtzehn Jahren, 1763, wurde er an der gleichen Kammer Kriegs- und Domänenrat und nach weiteren sechzehn Jahren, 1779, Kammerdirektor. Im Jahre 1788, nach vierundvierzig Jahren im Dienste der beiden Preußenkönige Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelm II., bat er im Alter von 72 Jahren um die Versetzung in den Ruhestand. Mindestens seit 1770 gehörte die Schiffbarmachung der Ruhr mit zu seinen Aufgaben, über die im Kapitel 13.1 ausführlich berichtet wird.
Johann Matthias und Jakob Christian waren die ersten Bernuths, die ihr berufliches Leben in die Dienste Preußens stellten, eines Staates, in dem der Beamtenberuf ein hohes Ansehen genoß, aber dafür auch viel forderte: Disziplin, Fleiß, Sparsamkeit, Zuverlässigkeit und Loyalität dem Landesherrn gegenüber. Diese Forderungen, die später in der Rückbesinnung auch "preußische Tugenden" genannt werden, haben das Erziehungsverhalten der nachfolgenden Elterngenerationen unserer Familien bestimmt und ihren Mitgliedern bei der Bewältigung neuer Aufgaben, zum Beispiel nach dem Zusammenbruch 1945, geholfen.
Den beiden Brüdern folgten noch viele Bernuths als preußische Beamte nach. Der älteste Sohn von Johann Matthias, AugustI, wurde königlicher preußischer Hofrat und Landrentmeister in Cleve. FriedrichIII, der dritte Sohn von Johann Matthias, fing nach dem Studium an der Universität Halle ebenfalls als Referendar bei der Clever Kammer an, nachdem er vorher schon zwei Jahre als Referendar bei der "Königlichen Clevischen Regierung" gearbeitet hatte. Später wurde er wie sein Vater Kriegs- und Domänenrat in Cleve, dann Kammerpräsident in Minden (die Direktoren-Stufe hat er übersprungen), danach Kammerpräsident in Aurich. Nach verschiedenen weiteren Stationen, die in den 'Lebensbildern', Kapitel 3.2, nachzulesen sind, beendete er seine Beamtenlaufbahn als erster Regierungs-Chef-Präsident des 1816 neu geschaffenen Regierungsbezirkes Arnsberg, wo er im Jahre 1825 im Alter von 68 Jahren in den Ruhestand versetzt wurde. Zwei seiner fünf Söhne, FritzIII 3. und EmilIII 9., wurden königlich preußische Landräte, der ältere in Rees, später Wesel, der jüngere in Lennep. Ein weiterer Sohn, LouisIII 5., wurde der erste Bernuthsche königlich preußische Offizier der Blauen Linie. Der fünfte Sohn, ErnstIII 10., wurde als königlich preußischer Oberlandesgerichts-Referendar im Alter von 27 Jahren geisteskrank und starb unverheiratet im Alter von 52 Jahren. Der älteste Sohn von Fritz, WilhelmI 1. v. Bernuth (1788-1824) JohannIII 3.1), wurde Bürgermeister von Kervenheim bei Kevelaer, später stellv. Kreisamtmann in Bad Pyrmont. Ein weiterer Sohn, AntonIII 3.8), wurde Oberbergrat. Die beiden Söhne FritzIII 3.2) und ErnstIII 3.6) ergriffen die Offizierslaufbahn.
 
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In dieser Generation, die im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts geboren worden war, standen die heranwachsenden Söhne von höheren Staatsbeamten zum ersten Mal vor dem Problem, daß es außer den Möglichkeiten, wie der Vater die Beamtenlaufbahn zu ergreifen oder Offizier zu werden, keine weiteren 'standesgemäßen' Berufsmöglichkeiten im Königreich Preußen gab. Das Problem wurde dadurch verschärft, daß es seit 1815 keine Heereserweiterung in Preußen gegeben hatte und daß die rasche Zunahme der Bevölkerung – die große Zahl der Bernuthschen Kinder spiegelt diese Entwicklung wider – auch einen Andrang auf die Verwaltungslaufbahn nach sich zog.
Wer sich zu beidem nicht berufen fühlte, sondern eher kaufmännische Neigungen entwickelte, den zog es nach Amerika, in das Land, wo eben der Goldrausch ausgebrochen war und jedem – so schien es – eine Chance zum Glück und zur freien Entfaltung geboten wurde. Vier weitere Söhne von FritzIII 3. (von seinen elf Kindern waren nur zwei Töchter) schlossen sich der großen Zahl der Auswanderer an, die kurz vor und nach der Revolution im Jahre 1848 ihr Glück in Amerika suchten. Über die Bernuthschen Auswanderer wird in Kapitel 1.4 ausführlich berichtet.
Zwei der Söhne von FritzIII 3. beendeten erst die von ihnen erwartete 'preußische Ausbildung', bevor sie sich ihren wahren Neigungen widmeten: der schon als Offizier erwähnte ErnstIII 3.6) nahm nach einer Kriegsverletzung 1867 seinen Abschied, als er Mitte dreißig war, und widmete sich ganz der Kunstmalerei. JuliusIII 3.4) studierte zunächst Jura und arbeitete als Referendar am Gericht in Wesel, bevor er im Alter von vierundzwanzig Jahren 'die juristischen Fesseln abstreifte' und 'dem immer mächtiger sich durcharbeitenden inneren Drange folgend' sich der Musik widmete. Auch zwei Söhne von Julius wurden Musiker.

Die ausgeprägte Neigung zur Malerei findet sich im übrigen noch in späteren Generationen der Fritz'schen Nachkommen wieder: WaltherIII 3.1)(1)a und seine amerikanische Cousine zweiten Grades LecianIII 3.2)(2)a haben sich Zeit ihres Lebens der Malerei gewidmet. Auch die Mutter von Lecian, ElseIII 3.5)(1), war eine begabte Malerin von Miniaturen.

Als letzten preußischen Offizier und Beamten der Blauen Linie finden wir Fritz III 5.2)(5), der im Jahre 1916 Oberregierungsrat wurde und 1918, als er den Eid auf die neu erstandene sozialdemokratische Republik verweigerte, im Alter von 53 Jahren pensioniert wurde. Ihm haben wir es zu verdanken, daß im Jahre 1922 die erste 'Geschichte der Familie Bernuth' erschien, die wegen ihres Einbandes das
'Grüne Buch' genannt wird. Sein stark ausgeprägter Familiensinn und die frühzeitige Pensionierung gaben ihm Kraft und Gelegenheit, die umfangreichen Nachforschungen in den Archiven, vor allem im Berliner Geheimen Staatsarchiv, anzustellen, ohne die heute viele Informationen über unsere Vorfahren nicht erhalten geblieben wären. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte sein Sohn Hans-JoachimIII 5.2)(5)c diese Arbeit fortgesetzt. Die von ihm zusammengetragenen Unterlagen sind uns jedoch nicht erhalten geblieben; sie fielen 1945 den Russen in die Hände. Von den im 20. Jahrhundert geborenen Bernuths der Blauen Linie gingen nur noch vier als Beamte in den Staatsdienst: EberhardIII 5.2)(5)d, ein Bruder von Hans-Joachim, wurde Forstmeister, und JochenIII 9.5)(6)a war Regierungsrat. UlrichIII 5.2)(5)d4 und DietlindIII 9.5) (3)a3 sind Lehrer.

Bernuths der Blauen Linie, die ihr Leben lang Berufsoffizier waren, sind über die oben erwähnten hinaus noch zu erwähnen: WilhelmIII 5.1)(1) war königlich preußischer Major und Bezirksoffizier; sein Bruder HansIII 5.1)(5) war königlich preußischer Hauptmann; RobertIII 5.2)(3) war königlich preußischer Generalleutnant; sein Großneffe VolkerIII 5.2)(5)c7, der Sohn des oben erwähnten Hans-Joachim, hat als jüngster und als einziger Bernuth nach dem Zweiten Weltkrieg die Berufsoffiziers-Laufbahn gewählt.
 
Es bedarf besonderer Erwähnung, daß eine große Zahl Bernuthscher Männer – vor allem der Blauen Linie – als Freiwillige oder als unfreiwillig Gezogene den Waffenrock getragen haben, um dem Vaterland zu dienen, auch wenn ihr eigentlicher Beruf ein anderer war. Von der Blauen Linie wurden drei junge Bernuths so früh zu den Waffen gerufen, daß ihnen für eine Berufswahl keine Zeit mehr blieb: sie starben für das Vaterland im Ersten Weltkrieg. Dies waren WillyIII 3.1)(1)b, er fiel als zweiundzwanzigjähriger Leutnant 1915 in Rußland; Fritz-HeinzIII 5.2) (5)b fiel 1918 im Alter von neunzehn Jahren als Fähnrich in Frankreich; auch ElgarIII 9.5) (3)c fiel 1918 als achtzehnjähriger Leutnant in Frankreich.

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Bei der Roten Linie finden wir außer dem bereits erwähnten Kriegs- und Steuerrat Jakob Christian, dem Stammvater der Roten Linie, fünf von seinen sechs Söhnen als königliche preußische Verwaltungsbeamte oder als Richter wieder: Wilhelm1. war königlich preußischer Steuerrat in Hamm; Louis2. wurde als königlich preußischer Wirkl. Geheimer Oberfinanzrat im Alter von 74 Jahren verabschiedet, nachdem er zuvor als Kriegs- und Domänenrat in Ansbach, dann fast zwanzig Jahre im Finanzministerium in Berlin und danach im Ministerium des Königlichen Hauses zur Verwaltung der Domänen eingesetzt war. Karl4. wurde als königlich preußischer Oberlandesgerichts-Chefpräsident in Münster pensioniert. Von Karls dreizehn Kindern folgte ihm jedoch nur eines als preußischer Beamter nach: August4.2) wurde nach mehreren Stationen in der preußischen Justizverwaltung Justizminister in Berlin (1860 bis 1862). Ernst5. wurde Oberappellationsgerichtsrat in Hamm; sein Sohn, Karl5.1) wurde königlich preußischer Kreisgerichtsrat in Soest.
August6. wurde nach vielen Stationen in der preußischen Verwaltung königlich preußischer Wirkl. Geheimer Oberregierungsrat in Berlin. Seine zwei Söhne schlugen wie er die Beamtenlaufbahn ein: Julius6.1) wurde als königlich preußischer Oberzollinspektor in Mittelwalde, Schlesien, in den Ruhestand versetzt. Sein Bruder, Otto6.3), war zunächst Landrat in Liegnitz (1850), dann wurde er 1862 als Polizeipräsident nach Berlin berufen, mußte auf Drängen von Bismarck jedoch 1867 zurücktreten und war dann von 1867 bis 1884 Regierungspräsident in Köln.  - Damit schließt die Reihe der preußischen Beamten aus der Roten Linie ab. Kein weiterer Nachkomme der erwähnten Söhne und Enkel Jakob Christians hat die Beamtenlaufbahn eingeschlagen.

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    "Die Bernuths gehörten zu einer ausgebreiteten preußischen Beamtenfamilie evangelischer Konfession, die aus Kleve stammend und seit 1786 nobilitiert dem preußischen Staat im 19. Jahrhundert zahlreiche Mitglieder der mittleren und oberen Führungsschicht gestellt hat. 1816 waren gleichzeitig 10 Brüder und Vettern als Steuer- und Regierungsräte, als Domänen-und Landgerichtsdirektoren, als Regierungs- und Oberlandesgerichtspräsidenten, als Geheime Finanz- und Wirkliche Geheime Oberregierungsräte tätig. Durch Heiraten sowohl mit dem angesessenen Landadel, dem Beamtenadel und dem gehobenen Bürgertum verbunden, in Gesinnung und Ausbildung auf die preußischen Verwaltungsgrundsätze eingeschworen, stellten sie zusammen mit den v. Rappards, v. Schlechtendahls, Böllings, v. Hymnen u.a. eine zahlenmäßig überschaubare stabile Elite dar, mit deren Hilfe Preußen die neugewonnen Gebiete im Westen verhältnismäßig schnell zu einer Rechts- und Verwaltungseinheit integrieren konnte."

Dies schreibt im Jahre 1980 der angesehene Historiker und Experte für Westfälische Geschichte Ludger Graf von Westphalen in Münster über die Bernuthschen Beamten des 19. Jahrhunderts.

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Die Urenkel Jakob Christians wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren und standen kurz vor bzw. nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung 1871 vor der Berufsentscheidung: viele von ihnen entschieden sich für die Offizierslaufbahn. Ein Sohn Jakob Christians war Offizier geworden: Fritz3. war königlich preußischer Oberleutnant und Kommandeur des Landwehrbezirks Meschede. Zwei der Söhne seines Bruders Karl, nämlich Fritz4.9) und Wilhelm4.10), wurden ebenfalls Offiziere: Fritz wurde königlich preußischer Generalmajor. Er blieb unverheiratet und war der Stifter der 'Fritz von Bernuth'schen Familienstiftung', der er testamentarisch einen Teil seines erheblichen Vermögens zu
dachte, aus dessen Zinsen junge Bernuths unterstützt werden sollten, die sich 'dem zivilen Staats- oder dem Militärdienst widmen'. Familiensinn und Hochachtung des Dienstes am preußischen Staat fanden hierin ihren Ausdruck! Sein Bruder Wilhelm 4.10) blieb ebenfalls unverheiratet und wurde königlich preußischer Oberstleutnant.
Das Interesse am Offiziersberuf stieg in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei den jungen Bernuths der Roten Linie stark an. Diese Entwicklung war vor dem Hintergrund der militärischen Erfolge Preußens in den Jahren 1864, 1866 und 1870/71 und in Verbindung der von Bismarck durchgesetzten Heeresreform in Clemens6.3)(2) v. Bernuth der ersten Hälfte der sechziger Jahre zu sehen. Wir finden sieben Bernuths, alle geboren zwischen 1842 und 1864, die im Laufe ihres Lebens zum Teil hohe militärische Ränge in der preußischen Armee erreichten. Es waren dies: Ernst5.1)(3), er wurde Generalleutnant; sein Bruder Felix5.1)(6), der Major wurde; Leo6.1)(4) und seine Brüder Julius 6.1)(7) und Otto6.1)(8), von denen die beiden ersteren Generalmajore und der letztere Oberstleutnant wurden; und schließlich die Brüder Clemens6.3)(2) und Lothar6.3)(4), die ebenfalls den Rang des Generalmajors bzw. Oberstleutnants erreichten. Julius6.1)(7) und sein Vetter Lothar6.3)(4) nahmen noch aktiv am Ersten Weltkrieg teil.

Auch die nächste Generation der Roten Linie wies wieder sechs Offiziere auf, alle Söhne der soeben genannten: Karl5.1)(3)a fiel 1914 als fünfunddreißigjähriger Hauptmann an der Westfront; sein Bruder Fritz ergriff ebenfalls die Offizierslaufbahn, nahm aber mehrfach schwer verwundet 1920 als Hauptmann seinen Abschied und wurde Landwirt. Am Zweiten Weltkrieg nahm er vom ersten Tage an teil und wurde 1944 als Oberstleutnant aus Altersgründen von seinen militärischen Pflichten entbunden. Felix5.1)(3)c, ebenfalls ein Bruder von Karl und Fritz, nahm nach dem Ersten Weltkrieg als Hauptmann seinen Abschied und trat dann vorübergehend in die Reichswehr ein, um ab 1922 zur Berliner Schutzpolizei zu gehen. Sein Sohn Ernst-Georg5.1)(3)c2 gehörte zu der besonders schwer geprüften Generation, die noch als Schüler zu den Waffen gerufen wurde; er fiel als zwanzigjähriger Leutnant im Jahre 1945. Auch Fritz5.1)(6)a ergriff nach dem Abitur im Jahre 1908 den Offiziersberuf, um dann – im Ersten Weltkrieg schwer verwundet – mit dem Studium der Medizin zu beginnen. Julius6.1)(7)a war der einzige aktive Bernuthsche Offizier im sog. Hunderttausend-Mann-Heer; Hans-Otto6.1)(8)c fiel als Oberst im August 1944.
Eine zusammenfassende Betrachtung läßt erkennen, daß die überwiegende Mehrzahl der Bernuthschen Beamten und auch der Offiziere im westlichen Teil Preußens ihren Lebensraum hatten. Die eigentliche Prägung der Familienmitglieder als Menschen ihrer Umgebung haben diese im rheinisch-westfälischen Raum erfahren, dessen Wirtschaft anders als die überwiegend agrarisch orientierten mittleren und östlichen Provinzen Preußens seit Jahrhunderten durch Handel, Gewerbe und zunehmend durch die Industrialisierung bestimmt wurde. Hier ist möglicherweise auch einer der Gründe zu suchen, daß nicht alle heranwachsenden Söhne Bernuthscher Beamter und Offiziere den gleichen Beruf wie ihre Väter erwählten, der preußische Disziplin und Ordnung ein Berufsleben lang voraussetzte, sondern größere Freiräume für ihre persönliche Entwicklung suchten. Nicht wenige junge Bernuths suchten diesen Freiraum als Kaufleute in Amerika, andere als kaufmännisch orientierte Landwirte im östlichen Teil Preußens.


1.3 Landwirte

Vier junge Bernuths wandten sich etwa um 1850 der Landwirtschaft zu. Dies waren die drei Söhne des früh verstorbenen Hauptmanns LouisIII 5.(-Minden), die bei ihren Großeltern van den Broek bzw. bei ihrem Onkel FritzIII 3., dem Landrat in Wesel, aufwuchsen, sowie deren Vetter BernhardIII 9.5), Sohn des Lenneper Landrates EmilIII 9.


1.3.1 Kamlau und Platenrode

JohannesIII 5.1), ältester der drei Brüder, heiratete nach dem Besuch der Landwirtschaftlichen Lehranstalt Poppelsdorf bei Bonn im Jahre 1854 als Fünfundzwanzigjähriger in Kamlau, Kreis Neustadt in Westpreußen, die siebzehnjährige Olga von Platen, vierte Tochter des dortigen Landrates und Besitzers von Kamlau, Ludwig Ernst von Platen. Dieser hatte Kamlau etwa 1830 gekauft und auf dem 2.250 Hektar großen Besitz so bedeutende Meliorationen durchgeführt, daß nach dem
Neubau dreier Vorwerke sich diese zu selbständigen größeren Gütern von 500 bis 1.000 Hektar herausgebildet hatten. Auf einem dieser Güter, das er bis zu seinem Lebensende 1869 selbst bewirtschaftete, baute Platen 1855/56 das Schloß Platen (Gut Schloß Platen) in neugotischem Stil. Johannes, Platens Schwiegersohn, bewirtschaftete Kamlau, welches er 1872 verkaufte; fünfzehn Jahre später starb er 58jährig in Magdeburg. die Güter Kamlau und Platenrode    
Sein Bruder FritzIII 5.2) besuchte zunächst die Universität Halle und dann von Herbst 1853 bis Sommer 1854 ebenfalls die Landwirtschaftliche Lehranstalt in Poppelsdorf. Seit 1855 war er mit Meta Groeneveld aus Groß Midlum bei Emden verheiratet, von deren Erbe er um 1855 Platenrode kaufte. Ungünstige Wirtschafts-und Witterungsbedingungen wurden später als Grund für die Pleite genannt, deretwegen er Platenrode wieder aufgeben mußte. Nach dem Verkauf von Platenrode an seinen Schwager Gerhard Groeneveld im Jahre 1870 lebte er mit seiner Familie in Andernach, Hamburg und Koblenz, wo er 1908 im Alter von 77 Jahren starb.


1.3.2 Groß Midlum, Kreis Emden

Der dritte der Brüder, LouisIII 5.4), wird im Grünen Buch als 'Herr auf (Groß-) Midlum' bezeichnet, wo er allerdings bereits 1864 im Alter von 31 Jahren starb. Im Mai 1855 hatte er sich an der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg immatrikuliert und im Juni 1860 die Hamburger Rechtsanwaltstochter Mary
Eggert geheiratet. Ein Jahr vor seinem Tode wurde in Groß Midlum sein einziger Sohn geboren.

Kamlau und Platenrode im Osten und Groß Midlum im Westen konnten noch keine landwirtschaftliche Tradition in unserer Familie begründen, dazu waren diese Güter zu kurz in Bernuthschem Besitz bzw. Pacht.


1.3.3 Kalittken, Kreis Rosenberg, Westpreußen

BernhardIII 9.5) aus Lennep erlernte nach dem Abitur, das er 1850 in Duisburg ablegte, für zwei Jahre die Landwirtschaft und wurde nach einem freiwilligen Dienstjahr beim Militär Unterbeamter auf den Gütern Niedane und später Oderberg, Oberschlesien.
Nach seiner Hochzeit im Jahre 1857 mit Elise Fuhrmann, der älteren Tochter des wohlhabenden Lenneper Tuchfabrikanten Johann Daniel Fuhrmann, wurde er Inspektor des im Kreise Rosenberg, Westpreußen, gelegenen Gutes Kalittken, das sein Schwiegervater im Jahre 1855 gleichzeitig mit dem Nachbargut Steenkendorf gekauft hatte, um auf beiden Gütern eine große Merino-Kammwollschäferei einzurichten. Inspektor von Steenkendorf wurde Walter von Heimendahl, den Johann Daniel Fuhrmann als landwirtschaftlichen Berater zur Besichtigung von Gütern mitgenommen hatte und der 1860 dessen Tochter Marie heiratete.


1.3.4 Borowo bei Czempin, Kreis Kosten, Posen

Ein aus Lippstadt in Westfalen stammender Bekannter von BernhardIII 9.5), August von Delhaes, war seit 1847 Besitzer von Borowko in Czempin, Kreis Kosten in der Provinz Posen. Vermutlich von ihm hörte Bernhard, daß das Nachbargut Borowo zum Verkauf
stand. Mit Hilfe eines Kredits von Schwiegervater Fuhrmann kaufte Bernhard im Jahre 1864 Borowo für 154.000 Taler.
Über achtzig Jahre, von 1864 bis 1945, war Borowo in Bernuthschem Familienbesitz; kein anderes Gut und kein Haus nach der Groß Rosenburger Zeit hat eine ähnlich lange Zeit Mitgliedern unserer Familie als Heimat gedient. Die Entwicklung Borowos sei deshalb ausführlicher dargestellt.
Die Geschichte von Borowo läßt sich bis 1397 zurückverfolgen, wo es schon als 'adeliger Besitz' erwähnt wurde.
Als Bernhard im Alter von zweiunddreißig Jahren Borowo kaufte, übernahm er einen sehr heruntergewirtschafteten Betrieb. Drei polnische Vorbesitzer hatten Borowo trotz Abholzung und Verkauf wertvoller Eichenbestände nicht halten können; auf deutsch bedeutet Borowo 'Waldgut'.

Bernhard brachte zuerst die gesamte Ackerfläche – ca. 712 Hektar – durch das Mergelverfahren mit anschließender Drainage in Ordnung. Schon vier Jahre nach dem Kauf, 1868, baute er eine Spiritusbrennerei. Nach einem Feuer, das 1875 von einem entlassenen Gärtner gelegt wurde und bei dem fast alle Gebäude, Scheunen und Ställe – außer dem noch in Lehmfachwerk gebauten Gutshaus und der bereits massiv gebauten Brennerei –, total vernichtet wurden, baute Bernhard den gesamten Hof in massiver Bauart völlig neu und funktionsgerecht auf. Da die Entschädigungssumme aus der Feuerversicherung hierfür nicht ausreichte, half wiederum sein Schwiegervater Fuhrmann.
Persönliche Tüchtigkeit, kaufmännisches Geschick und auch gute Ernten ermöglichten es Bernhard, in den Folgejahren für seine heranwachsenden Söhne die drei Güter Heinzendorf (1879 für seinen zweiten Sohn BernhardIII 9.5)(3)), Golaschin (1894 für seinen dritten Sohn KurtIII 9.5)(6), der es 1906 verkaufte und dafür Keßburg erwarb) und Wiesau (1906 für seinen ältesten Sohn EmilIII 9.5)(2)) zu erwerben.

OttoIII 9.5)(7), Bernhards jüngster Sohn, sollte Borowo übernehmen. Nach einer Landwirtschaftslehre und praktischer Tätigkeit in Schlesien und Pommern wurde Otto im Jahre 1904 nach seiner Hochzeit mit Ellinor Haarhaus Leitender Inspektor in Borowo. Bald darauf wurde Borowo an das Telefonnetz von Czempin angeschlossen. Die Telefonnummer "1" behielt Borowo bis zum Jahre 1945.
In den Jahren 1906 bis 1908 wurden die großen Transportprobleme durch den Bau einer Feldbahn mit acht Kilometer fest verlegtem und elf Kilometer fliegendem Gleis und den Bau einer Verladerampe an der Bahnstrecke Czempin-Schrimm beseitigt. 1909 baute Otto eine Kartoffelflockenfabrik, die 1911 auf die Erzeugung von Kartoffelwalzmehl erweitert wurde.
Im Jahre 1911 pachtete Otto Borowo von seinem Vater, der jedoch die mit dem Besitz verbundenen Ehrenämter noch nicht abgab. Als Folge des Ersten Weltkrieges wurde im Jahre 1919 die seit 1793 nach der durch die zweite Teilung Polens preußische Provinz Posen und damit auch Borowo wieder polnisch. Um Borowo zu erhalten, das schon über fünfzig Jahre in Familienbesitz war, nahm Otto und seine Familie die polnische Staatsbürgerschaft an. In den Jahren 1920/21, nach dem Tod von Bernhards Frau Elise, wurde das alte Gutshaus vollständig umgebaut, modernisiert und erweitert.
Um Erbschaftssteuer zu sparen, hatte Otto seinem Vater Borowo 1923 – während der Inflation – abgekauft. Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges hatte Otto eine Trocknungsanlage gekauft, die Mitte der zwanziger Jahre als Cichoriendarre zur Herstellung von Kaffee-Ersatz in Betrieb genommen wurde und die bis 1945 arbeitete. In den folgenden Jahren erwies sich der Kauf der Cichoriendarre als gute Investition: die getrockneten Cichorienschnitzel wurden als Rohprodukt an die Magdeburger Firma Frank & Söhne verkauft und dort zu dem allbekannten Cichorienkaffee in der blauroten Packung verarbeitet. Durch den devisenbringenden Export der Cichorienschnitzel hatte Otto für sich und seine Frau Ellinor den begehrten polnischen 'Export-Pass' erhalten, der das Reisen in das 'Deutsche Reich' ohne die hohen Pass-Gebühren ermöglichte.
Im Jahre 1929 wurde Borowo um eine weitere Anlage erweitert: eine Erwerbsgärtnerei, die nach einer baldigen Erweiterung Glashäuser mit einer Gesamtfläche von 7.500 qm mit einer eigenen, großen Heizanlage umfasste. In den Glashäusern wurde die für Polen damals neue Zucht einer amerikanischen Edelnelke betrieben, von der jährlich 650.000 Stück an Blumengroßhändler in vielen polnischen Großstädten verkauft wurden. Um den umfangreichen Bestellverkehr bewältigen zu können, richtete Otto die Kabel-Anschrift "POLNELK" für Borowo ein. Im gleichen Jahr wurde der Park auf acht Hektar vergrößert und neu gestaltet.
Ein weiterer wichtiger Schritt zur Mechanisierung Borowos war von Otto schon im Jahre 1927 unternommen worden, als sämtliche Arbeitsochsen verkauft und dafür ein großer Dampfpflugsatz angeschafft wurden. Nach und nach wurden auch die veralteten Werkstätten des Hofes modernisiert und erneuert: die Schmiede, die Stellmacherei, die Maschinenreparaturwerkstatt mit Drehbank, Bohr- und Hobelmaschine, Gießerei für Messinglager etc. – mit dem Ziel, Unabhängigkeit von fremden Monteuren und teurem Kundendienst zu erlangen.
Otto und seine Frau Ellinor zeigten also unternehmerischen Geist nicht nur allein in den beschriebenen Investitionen für den landwirtschaftlichen Betrieb, sondern auch in der Errichtung landwirtschaftlicher Nebenbetriebe, mit dem Ziel, die Vielseitigkeit und Rentabilität des Gutes zu steigern.
Im Oktober 1934, wenige Monate nach seiner Hochzeit mit Katharina von Arnim aus Kröchlendorff/Uckermark, übernahm Ottos zweiter Sohn WolfIII 9.5)(7)c die Stelle des Leitenden Inspektors in Borowo, nachdem er eine umfassende praktische und theoretische landwirtschaftliche Ausbildung durchlaufen hatte.
Schon zwei Jahre später, 1936, gründete Wolf neben seiner Inspektorentätigkeit eine Exportfirma für lebendes Wild: Fasanen, Rebhühner, Hasen und Rehe. Für das Haarwild schickte er Fangkolonnen mit eigens dafür geknüpften, insgesamt drei Kilometer langen Fangnetzen durch ganz Polen bis an die russische Grenze nach vorher abgeschlossenen Verträgen mit polnischen Gutsbesitzern. Das Federwild wurde mit Beginn des ersten Schneefalls in Futterfallen gefangen. Da die Verkaufspreise im Winter erheblich unter denen des Frühjahres lagen, pachtete Wolf von seinem Vater drei Morgen Land nahe am Hof, umzäunte zunächst einen Morgen mit dichtem Holzzaun und errichtete darin 25 qm große verdrahtete Volieren, in denen er das Federwild hielt, bis es im Frühjahr zu guten Preisen ins Deutsche Reich, nach Frankreich und nach Belgien verkauft werden konnte.
Nach Kriegsbeginn 1939 und dem deutschen Einmarsch in Polen war dieses außerordentlich einträgliche Geschäft plötzlich beendet. Um die Volieren auszunutzen, wurden sie zu Nutria-Gehegen umgebaut, die das notwendige Wasser durch neu gebohrte Brunnen erhielten. Die ersten fünf wertvollen Nutria-Zuchtpaare trafen im Frühjahr 1940 ein. Mit Sorgfalt wurde zunächst der Tierbestand vergrößert, und ab 1942 wurden die ersten Felle an die deutsche Fellzentrale in Leipzig verkauft. Die Felle der Nutrias wurden zu Pelzmänteln – auch für Damen – verarbeitet und aus den Häuten lederne Lampenschirme hergestellt. Das schmackhafte Fleisch der gepelzten Tiere kauften Posener und Berliner Hotels gern als markenfreies Fleisch.
Im Jahre 1940, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem Einmarsch der Deutschen in Polen, wurde Wolf als Betriebsleiter auf das drei Kilometer entfernte, unmittelbar benachbarte Gut Szoldry dienstverpflichtet und gleichzeitig zum Bezirkslandwirt über 12.500 Hektar Groß- und Kleinbetriebe sowie zum Kreisjägermeister des Kreises Schrimm ernannt. Die Jagd spielte in Borowo und auf allen Nachbargütern von alters her eine große Rolle.
Die Kriegsjahre verliefen in Borowo und Hessenhof verhältnismäßig ruhig, wenn auch die Sorgen um den Ausgang des Krieges immer stärker wurden. Am 20. Januar 1945 um 23.00 Uhr verließen Otto und Ellinor Borowo für immer. Sie mußten vor den herannahenden russischen Truppen fliehen.

* * *

Über die Entwicklung von Borowo nach 1945 sind wir gut unterrichtet: nach dem Zweiten Weltkrieg haben mehrere Bernuths Borowo besucht, als erste EllenIII 9.5)(7)b, älteste Tochter von Otto, im Jahre 1965, dann weitere Vettern und Cousinen; im Jahre 1977 – ein Jahr vor seinem frühen Tode – Wolf und seine Frau Katharina und in den Jahren 1980 und 1985 Wolfs Sohn Wolf DietloffIII 9.5)(7)c2 und dessen Frau Ute.
Borowo wird seit Ende des Zweiten Weltkrieges als Staats- und Versuchsgut in nahezu den alten Gemarkungsgrenzen weitergeführt. Als eines von zwölf Versuchsgütern gehört es zum 'Pflanzenzucht- und Akklimatisierungsinstitut (IHAR)', das 1951 mit Sitz in Radzikow bei Warschau gegründet wurde und dem Landwirtschaftsministerium untersteht. Die Feldbahn wurde nach Kriegsende demontiert, aber bis auf die Cichoriendarre sind alle von früheren Bernuth-Generationen angelegten Nebenbetriebe erhalten und z.T. vergrößert worden: die Nelkenkulturen sind um 2.500 qm auf 10.000 qm vergrößert worden, die Zahl der Nutrias hat sich von 1.600 bei der Flucht auf über 3.000 im Jahre 1980 erhöht, und auch die Brennerei wird weiter betrieben. Der Milchviehbestand ist erheblich vergrößert worden, und die Feld- und Hofwirtschaft ist fast voll mechanisiert, was u.a. bedeutet, daß die gesamte Ernte innerhalb einer Woche eingefahren werden kann.
Im früheren Herrenhaus sind Büros und Versuchslabore untergebracht; es ist gepflegt und gut erhalten, wie auch der acht Hektar große, im Jahre 1929 angelegte Park. Etwa dreißig Hektar der landwirtschaftlichen Fläche werden zu Versuchszwecken mit ölhaltigen Pflanzen bebaut, vor allem mit verschiedenen Rapssorten, bei deren Zucht Borowo besondere, weltweit von der Fachwelt anerkannte Erfolge erzielte.
Wenn auch Borowo seit 1945 kein Bernuthscher Besitz mehr ist – und dies wohl kaum jemals mehr werden wird –, so mag uns das Wissen um den Fortbestand der von drei Bernuth-Generationen dort aufgebauten Werke mit einiger zurückhaltender Genugtuung erfüllen, legen sie doch Beweis ab für gute unternehmerische Entscheidungen früherer Bernuth-Generationen – noch heute.

* * *

1.3.5 Heinzendorf, Kreis Guhrau, Schlesien

Als BernhardIII 9.5)(-Borowo) fünfzehn Jahre nach dem Kauf von Borowo das etwa fünfzig Kilometer südlich von Borowo in der Provinz Schlesien gelegene Gut Heinzendorf im Kreise Guhrau kaufte, war sein zweiter Sohn BernhardIII 9.5)(3), der Heinzendorf übernehmen sollte, sechzehn Jahre alt. Nach dem Abitur, einem dreisemestrigen Jurastudium in Heidelberg und einer Landwirtschaftslehre wurde Bernhard im Jahre 1888 Inspektor auf dem damals 490 Hektar großen Gut. Vier Jahre später pachtete er Heinzendorf von seinem Vater, nachdem er ein Jahr zuvor schon die Heinzendorf unmittelbar benachbarte Domäne Kraschen (401 Hektar) als Pächter übernommen hatte. 1895 kaufte er Heinzendorf von seinem Vater.
Das 1770 in barockem Stil erbaute Gutshaus wurde 1910 an- und umgebaut. Es hatte auf ca. 500 qm Wohnfläche 29 zentralbeheizte Zimmer und 21 weitere Räume, drei Bäder und sechs WCs. Besonders eindrucksvoll waren die große Eingangshalle und die Gesellschaftsräume. Der Park war klein, aber gepflegt; eine doppelte Lindenallee umgab an drei Seiten das Haus. An den Gutshof grenzte eine 2,5 Morgen große Obst- und Gemüsegärtnerei.
Im Jahre 1925 kaufte Bernhard das 170 Hektar große, nahegelegene Gut Stroppen dazu, das er aber bereits fünf Jahre später zu Siedlungszwecken wieder abgeben mußte. Als Vorsitzender des 'Gesamtpreußischen und Schlesischen Domänenpächter-Verbandes' geriet er in zunehmende Differenzen mit der sozialdemokratisch beherrschten preußischen Regierung, welche im Jahre 1931 zur Aufgabe der Domänenpachtung in Kraschen führten, die seit 1921 von seinem Sohn BernhardIII 9.5) (3)a bewirtschaftet worden war.
Der zuletzt 434 Hektar große Gutsbetrieb Heinzendorf hatte 'wechselnden Mittelboden' und war in 3/4 Ackerfläche und 1/4 Grünland und Wald aufgeteilt. Besonderes Gewicht hatte der damals auf solchen Böden sonst nicht übliche Anbau von Zuckerrüben; in geringem Maße wurde auch Saatzucht (z.B. Petkuser Roggen) betrieben.
Heinzendorf und die anderen von Bernhard bewirtschafteten Gutsbetriebe waren technisch modern ausgestattet: Feldbahn, Brennerei, Stärke- und Kartoffelflockenanlage wurden von ihm angelegt. Der Landmaschinenbesatz war gut und reichlich, die Gutsschmiede und Stellmacherei waren modern und leistungsfähig eingerichtet. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gehörten 130 Stück schwarz-buntes Niederungsvieh, davon zwei Zuchtbullen und siebzig Herdbuchkühe, zwanzig Pferde, davon ein Zuchthengst und sieben Hauptstammbuchstuten (Kaltblut) und zwei Hauptstammbuchstuten (Warmblut) zum Gut. Hinzu kam eine Schweinezucht wechselnder Größe und eine Nutriazucht mit ca. 30 Tieren im Vorwerk im Bruch.
Im Jahre 1942 starb Bernhard im Alter von 79 Jahren, und sein Sohn Bernhard wurde Besitzer von Heinzendorf. Er konnte die Bewirtschaftung des Gutes jedoch nicht selbst übernehmen, da er als Soldat noch im Felde stand. Seine Frau Erika, geb. Gräfin von Rothkirch, Freiin von Trach, zog mit den Kindern nach Heinzendorf und kümmerte sich neben ihren Aufgaben als Mutter und Hausfrau um die Gutsverwaltung, unterstützt durch den von Bernhard als Bevollmächtigten eingesetzten Nachbargutsbesitzer Alexander von Meyer zu Knonow auf Nahrtenund Reichen, der diese Aufgabe trotz eigener starker Beanspruchung übernahm.
Seit Ende 1938 wohnte auch Bernhards Bruder Horst-DiethelmIII 9.5)(3)e nach achtjährigem Aufenthalt als Plantagenbesitzer in Tanganyika, dem heutigen Tansania in Ostafrika, mit seiner Familie in Heinzendorf. Er fiel jedoch bereits im Juli 1941 in Rußland.
Somit lebten bis zur Flucht vor den herannahenden Russen im Jahre 1945 drei Bernuthsche Frauen, z.T. mit ihren Kindern, im Heinzendorfer Hause: Lucia, geb. Freiin von Dalwig, und ihre beiden Schwiegertöchter Erika und Gertrud. Gertrud, geb. Scherz, die Witwe von Horst-Diethelm, übernahm neben ihren Aufgaben als Mutter – Dietmar, das jüngste ihrer vier Kinder war gerade fünf Monate alt, als Horst fiel – die Betreuung ihrer Schwiegermutter Lucia und die Betreuung der gesamten Geflügelhaltung.
Um 1942, nach dem Tode von Bernhard, den Familienbesitz Heinzendorf erhalten zu können, verzichteten Hedela und Gertrud für ihre Kinder auf das Erbteil, nachdem Gertrud von ihrem Schwager Bernhard die Zusage erhalten hatte, weiterhin mit ihren Kindern in Heinzendorf leben zu können.
Außer den drei genannten Bernuth-Generationen, die während des Krieges in Heinzendorf unter einem Dach lebten, wohnten noch zwei weitere Familien aus Berlin bzw. Leipzig mit eigenen Haushalten im Herrenhaus, sowie zwei kleine Mädchen als Bombenflüchtlinge aus Bonn. Am 22. Januar 1945 verließen Lucia, Erika und Gertrud mit den sechs Kindern und den restlichen Dorfbewohnern aus Heinzendorf und Kraschen ihre Heimat für immer  – wenige Stunden, bevor die sowjetischen Truppen dort einrückten.
* * *

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam Schlesien  - und damit Heinzendorf - unter polnische Verwaltung. Heinzendorf blieb als landwirtschaftlicher Staatsbetrieb in Verbindung mit der ehemaligen Domäne Kraschen erhalten und wurde für seine Milchwirtschaft mehrfach ausgezeichnet. Auch die Kornbrennerei wird weiterhin betrieben. Das Herrenhaus war zunächst teilweise bewohnt und diente als Sitz der Verwaltung des Kombinats. Seit Anfang der achtziger Jahre ist es jedoch unbenutzt und verfällt. Die Gleise der Eisenbahn nach Guhrau sind demontiert.
Der alte, über eine Kastanienallee zu erreichende Friedhof in der Feldmark wird auch heute noch als Dorffriedhof benutzt; die Bernuthschen Gräber sind verfallen und von Laub und Gestrüpp überwuchert. Lediglich die Gedenktafeln von Horst und seinem Bruder Elgar sind noch an ihren alten Plätzen in der Mauer vorhanden.

* * *

1.3.6 Keßburg, Kreis Deutsch-Krone

KurtIII 9.5)(6), dritter Sohn von BernhardIII 9.5) (-Borowo), übernahm nach Beendigung seiner landwirtschaftlichen Ausbildung im Jahre 1895 das ein Jahr zuvor von seinem Vater gekaufte Gut Golaschin (Golaszyn, 851 Hektar) im Kreise Obornik/Warthe, etwa 60 Kilometer nördlich von Borowo, direkt an der Warthe gelegen. Im Jahre 1906 verkaufte Kurt Golaschin und erwarb das Gut Keßburg im Kreis Deutsch-Krone in Westpreußen (später Pommern).
Keßburg, früher 'Kieseburg' (Grüne Burg), verdankt seinen Namen einem Burgwall wendischen Ursprungs, den Kurt und Marie zu einem schönen Staudengarten gestalteten und der sich an das Gutshaus anschloß, das sie im Jahre 1921 erbauten. Heute noch erhalten ist die Dorfkirche, eine der ältesten Fachwerkbauten der Gegend. Das Gut war 634 Hektar groß, wovon 575 Hektar Ackerfläche waren. Keßburg verfügte über eine Brennerei und war mit modernsten Maschinen ausgestattet. Die Wirtschaft hatte sich auf Saatguterzeugung von Kartoffeln, Grassamen und Ölfrüchten spezialisiert; es bestand eine Herdbuch-Herde, eine Stamm- und Klassen-Schäferei, eine Berkshire-Schweinezucht und eine Pferdezucht.
Als Kurt im Jahre 1934 starb, übernahm seine Frau Marie und sein zweiter Sohn JürgenIII 9.5)(6)b die Leitung des Gutsbetriebes von Keßburg. Jürgen hatte nach dem Abitur in Heidelberg Agrarwissenschaft studiert und anschließend eine landwirtschaftliche Ausbildung bei Herrn von Diest in Zeitlitz und Schmorow, Kreis Labes, Pommern, absolviert. Im Jahre 1926 war er Inspektor in Keßburg geworden. Als Jürgen im Jahre 1939 mit Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen wurde, übernahm Marie die Gutsverwaltung, unterstützt von Tochter Ingrid, die seit 1935 als Gutssekretärin in Keßburg tätig war.

* * *

Am 27. Januar 1945 traf in Keßburg der Befehl zur Räumung des gesamten Gebietes ein; in aller Eile wurde ein Treck zusammengestellt, mit dem Marie und Ingrid, unterstützt von vier französischen Kriegsgefangenen, später von zwei Österreichern, zu dem 1.500 Kilometer langen Weg nach St. Wolfgang in Österreich aufbrachen.
* * *

Auch Keßburg gehört seit Ende des Zweiten Weltkrieges zur Volksrepublik Polen und ist Zentrum eines 7.000 Hektar großen landwirtschaftlichen Kombinates. Das Gutshaus ist erhalten und wird als Sitz der Verwaltung und Kindergarten genützt. Der Park läßt noch im Jahre 1985 trotz fehlender Pflege den früheren Reiz erkennen.


1.3.7 Wiesau, Kreis Glogau, Schlesien

EmilIII 9.5)(2), ältester Sohn von BernhardIII 9.5)(-Borowo), war Kaufmann in der Tuchhandelsfirma Hardt & Co., Berlin und Buenos Aires, bevor er im Jahre 1906 mit Hilfe seines Vaters und Schwiegervaters (seit 1893 war er mit Margret Hardt aus Lennep verheiratet, deren Schwester Marie später seine Schwägerin in Keßburg wurde) das Gut Wiesau im Kreise Glogau, Schlesien, erwarb.
Wiesau war 980 Hektar groß, betrieb Roggen- und Kartoffelbau in größerem Umfang, sowie Viehzucht und hatte eine Stärkefabrik. Nach dem frühen Tod von Emil im Jahre 1913 übernahm seine Frau Margret die Gutsverwaltung, bis der einzige Sohn Arnold III 9.5)(2)a nach Abschluß einer landwirtschaftlichen Ausbildung und kurzer Teilnahme am Ersten Weltkrieg das väterliche Erbe antreten und die Bewirtschaftung von Wiesau übernehmen konnte.
Im Jahre 1928 mußte Arnold, der seit 1926 mit Liselotte Mietsitscheck von Wischkau verheiratet war, das Gut Wiesau aus gesundheitlichen Gründen verkaufen.


1.3.8 Kreuzfelde, Kreis Schrimm

Zum Besitz des in der Beschreibung von Borowo bereits erwähnten Schwagers von BernhardIII 9.5), August von Delhaes auf Borowko, gehörte auch Kreuzfelde im Kreis Schrimm, Prov. Posen. Dieses Gut mit einer Größe von 744 Hektar erbte im Jahre 1888 nach Augusts Tod dessen älteste Tochter Marie, die 1891 ihren Vetter zweiten Grades HeinrichIII 3.4)(3) heiratete. Da diese Ehe kinderlos blieb, adoptierte Marie im Jahre 1932 -ein Jahr nach dem Tode von Heinrich – den achtjährigen Enkel ihrer jüngeren Schwester Luise von Guenther, Ernst-Georg5.1)(3)c2, der später Erbe von Kreuzfelde werden sollte.
Auch die Ehe von Maries älterem Bruder Karl von Delhaes (seit 1888 Besitzer von Borowko) mit Anna Gräfin von Roedern blieb kinderlos. Karl und Anna von Delhaes adoptierten im Jahre 1931 den jüngsten Sohn von Karls Schwester, Gerd von Guenther. Nach seiner Hochzeit mit Ingeborg von Koerber wurde Gerd von Delhaes-Guenther im Jahre 1935 Pächter von Kreuzfelde; er fiel 1944 in Italien. – Im März 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, fiel auch Ernst-Georg als zwanzigjähriger Leutnant in Ungarn.
Marie siedelte im Jahr 1934 nach Berlin um; sie starb 1958 in Bad Tölz. Ihr Bruder Karl von Delhaes starb im Januar 1945 auf der Flucht, seine Frau Anna im Jahre 1960 ebenfalls in Bad Tölz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kreuzfelde als polnisches Staatsgut weiterbetrieben. Das Gutshaus ist gut erhalten und wird gepflegt; die beiden Familienwappen (Bernuth und Delhaes) an den Wänden der Eingangsseite wurden um 1982/83 renoviert. Das Herrenhaus wird als Erholungsheim des benachbarten Kombinats Manieczki genutzt. Eine Tafel am Haus erinnert an den polnischen Nationaldichter Adam Michiewcz, der sich im Jahre 1831 in Kreuzfelde aufhielt.
Das ehemals Delhaes'sche Schloß in Borowko am Ostrand von Czempin ist nach dem Kriege unbewohnt geblieben und wird seit 1979 langsam wieder restauriert; es soll für repräsentative staatliche Zwecke genutzt werden. Die Landwirtschaft (1.300 Hektar im Jahre 1939) wird als staatliches Kombinat betrieben.

* * *

1.3.9 Henkenhagen, Kreis Regenwalde, Pommern

Der einzige Voll-Landwirt und Gutsbesitzer der Roten Linie war Fritz5.1)(3)b auf Henkenhagen. Im Jahre 1885 geboren, machte er den Ersten Weltkrieg mit und wurde 1918 als Hauptmann verabschiedet. Nach seiner Hochzeit im Jahre 1919 mit Emilie von Zedlitz, geb. von Wedel, entschloß er sich – unterstützt von den Brüdern seiner jungen Frau -für die Landwirtschaft. Mit dem anteiligen Erlös aus dem Verkauf des geerbten elterlichen Hauses in Hennef am Rhein kaufte Fritz das Gut Henkenhagen im Kreis Regenwalde, Ostpommern, etwa zwanzig Kilometer südlich der Kreisstadt Labes gelegen. Vorbesitzerin war Frau Ellinor von Grünberg, geb. von Blücher a.d.H. Wolkow, Kreis Regenwalde.
Als Fritz das Gut im Jahre 1919 kaufte, betrug die Gesamtfläche 376 Hektar, die zum Teil wegen des stark kupierten Endmoränengebietes landwirtschaftlich nicht leicht zu bewirtschaften waren. Infolge der sich bereits 1929 abzeichnenden Weltwirtschaftskrise mußte Fritz einen größeren Teil an seinen Nachbarn, Herrn Gottstein in Gienow, verkaufen. Von dem verbleibenden Teil waren 132 Hektar Ackerland, 11 Hektar Wasserflächen – zwei kleinere Seen und mehrere Teiche, z.T. mit Krebsen und Fischen besetzt –, und der Rest, etwas über 50 Hektar, bestand aus Wald und Wiesen. Die Haupteinnahme des Gutsbetriebes stammten aus dem Saatkartoffelanbau. Auch die Jagd spielte eine große Rolle: gejagd wurde auf Hasen, Kaninchen, Rehe, Füchse, Rebhühner und vor allem auf Wildenten.
Das Gutshaus mußte wegen Schwammbefall kurz nach dem Kauf von Henkenhagen fast neu erbaut werden; im Laufe der Jahre wurden auch fast alle Wirtschaftsgebäude erneuert. Der Neubau der Arbeiterhäuser war bereits geplant, aber durch den Zweiten Weltkrieg konnte nur ein Haus noch vor 1945 fertiggestellt werden.
Während des Zweiten Weltkrieges war Fritz einige Jahre Kommandant des großen Gefangenenlagers in Hammerstein, Pommern, bis er im Oktober 1944 wegen Erreichung der Altersgrenze von allen militärischen Pflichten entbunden wurde und nach Henkenhagen zurückkehren konnte, das in der Zwischenzeit von seiner Tochter Felicitas verwaltet worden war.
In der Nacht vom 2. zum 3. März 1945 überrollten russische Truppen Henkenhagen. Fritz wurde verschleppt und blieb verschollen; seine Frau Molly, durch einen Kopfschuß schwer verletzt, erlag ihren Verletzungen am 11. März in Henkenhagen. Die drei Töchter Leonie, Felicitas und Esther, 25, 24 und 21 Jahre alt, mußten in Henkenhagen unter russischer Bewachung auf den Feldern und in den Ställen arbeiten, bis polnischen Soldaten sie im Juni 1945 vertrieben.
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird Henkenhagen als polnisches Staatsgut, weitgehend in den alten Grenzen, vom benachbarten Gienow aus verwaltet. Das Gutshaus wurde Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre abgetragen. Die Wirtschaftsgebäude werden nicht benutzt und verfallen; nur die Arbeiterhäuser sind alle erneuert.

Über weiteren Besitz bzw. Pachtung von landwirtschaftlichen Betrieben durch Familienmitglieder gibt die untenstehende Gesamtübersicht Auskunft; auch wird in den Lebensbildern in Kapitel 3 darüber berichtet.

Nr.
Name, Kreis, Land/Provinz
Hektar
Käufer, Pächter/Erbe
von ... bis...
Jahre
Bemerkungen
1
Kamlau, Kreis Neustadt, Westpreußen
unbek.
Johannes III 5.1)
1853 - 1872
19
Kamlau und Platenrode waren Nachbargüter; sie gehörten dem Landrat von Platen, Schwiegervater von Johannes
2
Platenrode, Kreis Neustadt, Westpreußen
unbek.
Fritz III 5.2)
1854 - 1870
16

3
Groß Midlum, Kreis Emden
unbek.
Louis III 5.4)
1860?- 1864?
??
Pachtung
4
Borowo, Kreis Kosten, Prov. Posen
712
Bernhard III 9.5)
1864 - 1945
81

5
Heinzendorf, Kreis Guhrau, Schlesien
490
Bernhard III 9.5)
1879 - 1945
66
poln. Name nach 1945: Witoszyce
6
Domäne Kraschen, Kr. Guhrau, Schlesien
401
Bernhard III 9.5)(3)
1891 - 1931
40
Pachtung
7
Stroppen, Kreis Guhrau, Schlesien
170
Bernhard III 9.5)(3)
1925 - 1930
5

8
Golaschin, Kreis Obornik, Prov. Posen
851
Kurt III 9.5)(6)
1894 - 1906
12

9
Keßburg, Kreis Deutsch-Krone
734
Kurt III 9.5)(6)
1906 - 1945
39
poln. Name nach 1945: Karsibor
10
Wiesau, Kreis Glogau, Schlesien
980
Emil III 9.5)(2)
1906 - 1928
22
poln. Name nach 1945: Radwanice
11
Domäne Grimsleben, Kreis Schrimm, Posen
691
Otto III 9.5)(7)
1911 - 1919
8
Pachtung
12
Osselwitz, Kreis Guhrau, Schlesien
375
Otto III 9.5)(7)
1919 - 1925
6

13
Kreuzfelde, Kreis Schrimm, Prov. Posen
744
Heinrich III 3.4)(3)
1891 - 1945

Eigentümerin: Marie, geb. v. Delhaes; 1935 bis 1944 von  Gerd v. Delhaes-Guenther gepachtet; nach 1910 Majorat
14
Henkenhagen, Kr. Regenwalde, Ostpommern
376
Fritz 5.1)(3)b
1919 - 1945
26
poln. Name nach 1945: Wiewiecko
15
La Soye bei Gerouville, Belgien
440
Mathias III 3.1)(1)
vor 1917 - ?
?
verpachtet
16
Plantage in Tanganyika, Afrika
32
Horst-D. III 9.5)(3)e
1931 - 1938
7

17
Farm in Del Norte, Colorado, USA
120
John III 3.7)(1)
1935 -?
?


Zu 1.3: Bernuthsche Güter (Gesamtübersicht über Besitz und Pachtungen)

* * *

Mit den fünf Bernuthschen Gütern Borowo, Heinzendorf, Keßburg, Kreuzfelde und Henkenhagen gingen im Januar 1945 nicht nur große materielle Werte und damit die Existenzgrundlage verloren – insgesamt etwa 2.850 Hektar Land, modern ausgerüstete Gutsbetriebe, voll eingerichtete Gutshäuser mit altem Schmuck und Familiensilber, unersetzlichen Gemälden, wertvollen Möbeln und Teppichen, etc. – (von diesen Werten konnte später nur ein kleiner Teil durch den sich über Jahrzehnte erstreckenden 'Lastenausgleich' in Geld erstattet werden); schwerer und unersetzlich war der Verlust der Heimat für die Bernuthschen Familien, auch wenn sie dieses Schicksal mit vielen anderen Familien zu teilen hatten.


1.4 Auswanderer

Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts ist neben den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und technischen Umwälzungen durch die besondere Rolle gekennzeichnet, die die Bevölkerungsbewegung in dieser Zeit gespielt hat. Auswanderung hat es auch schon in früheren Jahrhunderten gegeben, es waren Gruppenauswanderungen, Auswanderungen von Gemeinden. Das 19. Jahrhundert aber war gekennzeichnet durch Massenauswanderungen. Waren es zu Anfang des Jahrhunderts nur wenige Tausend pro Jahr, die die Heimat verließen, so überschritt die Auswandererzahl 1832 zum erstenmal die Zehntausend. 1846 waren es über 60.000, 1852 über 175.000 und 1854 nahezu 240.000 Auswanderer.
Die Zahlen gingen dann wieder etwas zurück, 1866 bis 1873 gab es noch einmal ein Auswandererhoch, 1880 bis 1885 ein letztes, dann sanken bis zum Ersten Weltkrieg die Zahlen.
Die deutsche Auswanderung des 19. Jahrhunderts war vorwiegend überseeische Auswanderung. Eine dominierende Rolle innerhalb der überseeischen Einwanderungsländer spielten die USA, die etwa ab 1835 durchweg mehr als neunzig Prozent aller deutscher Auswanderer aufnahmen.
Die Väter der ersten jungen Bernuthschen Männer, die sich zur Auswanderung entschlossen, waren als königlich preußische Landräte (FritzIII 3. in Wesel und sein Bruder EmilIII 9. in Lennep) zwar hohe Beamte, aber sie verfügten weder über größere finanzielle Vermögen noch über Grundbesitz. Hierzu kam: Landrat Fritz in Wesel hatte elf eigene Kinder und daneben noch die Vormundschaft für die vier früh verwaisten Kinder seines Bruders LouisIII 5., des Hauptmanns in Minden, übernommen, und Emil hatte acht eigene Kinder. Nicht nur ein Studium der Söhne, auch eine mehrjährige 'Zulage' für Referendare bzw. junge Offiziere hätte die finanziellen Möglichkeiten eines Landrates zu der damaligen Zeit überstiegen.
Die Zukunftsaussichten der insgesamt vierzehn jungen Bernuth-Söhne, die in den beiden landrätlichen Familien in Wesel und Lennep um die Mitte des 19. Jahrhunderts heranwuchsen, waren also nicht sehr verlockend – zumindest nicht im Königreich Preußen. Es kann daher nicht verwundern, daß die jungen 'Vereinigten Staaten von Amerika', in denen nicht Name, Stand und Herkunft zählten, sondern allein die persönliche Leistung des einzelnen, auf jene jungen Bernuths eine große Anziehungskraft ausübten, die entweder aus finanziellen Gründen oder wegen fehlender Neigung nicht dem Beispiel ihrer Väter folgen und als Beamte oder Offiziere in den Dienst des preußischen Königs treten wollten.


1.4.1 Die Firma 'Hardt, von Bernuth & Co.' in New York

Ein besonderer Umstand hatte den jungen Bernuths den Entschluß zur Auswanderung erleichtert: OttilieIII 9.2), zweitälteste Tochter von Landrat Emil in Lennep, war seit 1848 mit dem Lenneper Tuchkaufmann Heinrich Hardt verheiratet. Dieser hatte ein Jahr zuvor gemeinsam mit seinem Bruder Richard in New York ein Verkaufsbüro unter der Firma 'Hardt & Co.' für die Tuche der großen Lenneper Tuchfabrik Johann Wülfing & Sohn gegründet, die sich seit dem Jahre 1803 im Besitz der Familie Hardt befand. Zwischen beiden Brüdern wurde ein dreijähriger Turnus vereinbart in der Weise, daß einer von ihnen drei Jahre in New York und der andere drei Jahre in Europa seinen Wohnsitz nehmen sollte. Heinrich und Ottilie lebten bis 1850, von 1853 bis 1856 und zuletzt von 1859 bis 1862 in New York, in den Jahren dazwischen und ab 1862 lebten sie in Berlin, wo im Jahre 1854 die Einkaufsfirma Hardt & Co. für das New Yorker Geschäft gegründet worden war.
In den ersten Jahren nahm das Geschäft in New York eine langsame Entwicklung mit wechselndem Erfolg; erst der Bürgerkrieg in den fünfziger Jahren brachte der Firma große Gewinne. Außer den Fabrikaten von Johann Wülfing & Sohn aus Lennep kamen später auch andere Tuch- und Seidenwaren hinzu.
Die Existenz dieser New Yorker Firma, zu der über Ottilie und ihren Mann Heinrich enge familiäre und nachbarschaftlich-freundschaftliche Verbindungen bestanden, sowie die im Laufe der Jahre bestens organisierten Auswanderungsmöglichkeiten, auch die Tatsache, daß Farmland im großen, noch längst nicht überall 'verteilten' Amerika billig zu haben war – all dies führte dazu, daß von 1836 bis zum Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts elf junge Bernuths ihre preußische Heimat verließen.

Nur der erste – Ernst4.3) – und der letzte – Hans6.1)(6) – gehörten der Roten Linie an, die neun anderen waren Mitglieder der Blauen Linie.
Nicht alle jungen Auswanderer entschieden sich sofort für Amerika, wie die chronologische Übersicht über die Bernuthschen Auswanderer vor diesem Kapitel zeigt: die beiden Brüder GeorgIII 3.7) und RudolfIII 3.10), Söhne des Weseler Landrats Fritz, gingen als Kaufleute nach Antwerpen, von wo aus Georg erst nach etwa vierzig Jahren mit seiner Frau und drei Töchtern den beiden schon einige Jahre zuvor nach Amerika gegangenen Söhnen folgte. Rudolf dagegen blieb nur etwa vier Jahre in Antwerpen, verbrachte noch zwei bis drei Jahre in Japan und entschloß sich erst dann (etwa um 1867), endgültig nach Amerika zu gehen, wo sein älterer Bruder CarlIII 3.5) inzwischen Teilhaber eines Import-Geschäftes für Modeartikel geworden war, in das er eintrat.
Zu den Amerika-Auswanderern der 'ersten Generation' gehörte auch FritzIII 9.6) aus Lennep, ein jüngerer Bruder von Ottilie Hardt. Nach Beendigung seiner Schulzeit und einer vierjährigen kaufmännischen Ausbildung in Hamburg traf er im April 1856 als Einundzwanzigjähriger in New York ein, wo er in der Firma seines Schwagers Heinrich Hardt tätig wurde.
Schon nach sechs Jahren, am 1. März 1862, wurde Fritz Teilhaber bei Hardt & Co. Einige Jahre später – 1875 – wurde auch Markus L.W. Kitchen Teilhaber; Kitchen war ein Bruder von Carrie Kitchen, mit der Fritz in erster Ehe von 1861 bis zu ihrem Tode im Jahre 1867 verheiratet gewesen war.
Etwa von 1872/73 bis 1875 kamen drei junge Bernuths der 'zweiten' Auswander-Generation nach New York: Enkel des Weseler Landrates Fritz bzw. seines früh gestorbenen Bruders Louis (-Minden). Mindestens zwei von ihnen, nämlich LouisIII 5.2)(1) und AugustIII 3.2)(2), arbeiteten zunächst bei Hardt & Co., bis sie in New York Fuß gefaßt hatten und sich anderen Tätigkeiten zuwenden konnten.
Am 1. Januar 1880 wurde die New Yorker Firma Hardt & Co. in 'Hardt, von Bernuth & Co.' umgewandelt; Teilhaber waren Fritz von Bernuth, Markus L.W. Kitchen und Engelbert Hardt. Seit etwa 1883 war auch CarlIII 3.5) nach der im gleichen Jahr erfolgten Liquidation seiner eigenen Firma als Abteilungsleiter bei Hardt, von Bernuth & Co. tätig. Im Jahre 1887 trat FritzIII 9.6)(3), der dritte Sohn von Fritz, nach fünfjähriger kaufmännischer Ausbildung in Deutschland, u.a. bei Hardt & Co. in Berlin und Johann Wülfing & Sohn in Lennep, in die New Yorker Firma ein.
Im gleichen Jahr (am 30. Juni 1887) trat Markus L.W. Kitchen als Teilhaber aus. Eineinhalb Jahre später, am 1. Januar 1889, wurde EmilIII 9.6)(1), der älteste Sohn von Fritz, Teilhaber; er trat aber bereits zwei Jahre später am 31. Dezember 1890 aus Gesundheitsgründen wieder aus. Zwei Jahre später starb er, erst dreißig Jahre alt.
Im Jahre 1906 wurde beschlossen, die New Yorker Firma Hardt, von Bernuth & Co. trotz der erfreulichen Entwicklung, die dieselbe unter der Leitung von Heinrich Hardt genommen hatte, zu liquidieren, da Hardt & Co. in Berlin und Johann Wülfing & Sohn in Lennep sich nicht kapitalkräftig genug fühlten, das New Yorker und das umfangreiche, bereits in den fünfziger Jahren eingerichtete südamerikanische Geschäft, die beide fortgesetzt größere Kapitalansprüche stellten, auf Dauer zu finanzieren.
Zu erwähnen ist noch, daß von 1882 bis 1899 bei Hardt & Co. in Berlin und für einige Jahre auch in Buenos Aires, Argentinien, ein weiterer Bernuth, nämlich EmilIII 9.5)(2), tätig war, seit 1893 als Prokurist. -
Wegen der Bedeutung, die die New Yorker Firma Hardt & Co. entweder direkt oder indirekt (als Stütz- und Anlaufpunkt) für die jungen Bernuthschen Auswanderer über mehrere Jahrzehnte hinweg gehabt hat, ist ihre Entwicklung hier ausführlich geschildert worden.* * *
Die Zahl der von Deutschen oder Deutschstämmigen gegründeten und geführten Firmen in New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sehr groß. Viele dieser Firmen, auch solche, an denen Bernuthsche Auswanderer beteiligt waren, waren kleine Import-Export-Firmen, die so schnell wieder untergingen, wie sie geschaffen worden waren; andere entwickelten sich zu großen Handels- oder Fabrikationsfirmen, die bedeutende Namen trugen. Zu den letzteren zählen u.a. das große Handelshaus Vietor & Achelis, ebenso wie die noch heute weltberühmte Pianofabrik Steinway & Sons. OskarIII 3.5)(4), Sohn von Karl, war neun Jahre bei Vietor & Achelis beschäftigt, bevor er sich selbständig machte und zunächst durch den Import von Creosote-Öl (ein Konservierungsmittel für Eisenbahnschwellen und Telegraphenmasten) – später auch durch eine eigene Tankerflotte - einer der erfolgreichsten Bernuthschen Geschäftsleute in Amerika wurde. Über weitere Verbindungen, so auch zur Firma Steinway & Sons, wird in den jeweiligen Lebensbildern (siehe Kapital 3.2) berichtet.


1.4.2 Landwirte in Amerika und Österreich

Wie die Liste der Bernuthschen Auswanderer in Kapitel 1.4.4 erkennen läßt, wurden nicht alle Bernuthschen Amerika-Auswanderer Kaufleute. Die beiden ersten Bernuths wandten sich der Landwirtschaft zu. Der Regierungsreferendar Ernst4.3) aus Münster, ein Sohn des Oberlandesgerichts-Chef-Präsidenten Karl4., schied bereits 1836 als Sechsundzwanzigjähriger wegen Schwerhörigkeit aus dem Staatsdienst aus, um Landwirt zu werden, "zu welchem Behufe ich beabsichtige, im September nach den Vereinsstaaten Amerikas zu emigriren". Ernst starb kurz nach seiner Ankunft in Amerika.
Der andere Landwirt war GustavIII 3.3), Sohn des Weseler Landrats Fritz. Nach Besuch des Gymnasiums in Wesel und des 'Realgymnasiums' in Düsseldorf, wo er sein Abitur mit 'vorzüglich' ablegte, besuchte Gustav die Landwirtschaftliche Akademie Hohenheim bei Stuttgart, um dann mit einigen Freunden aus Wesel im Herbst 1853 als Fünfundzwanzigjähriger nach Amerika auszuwandern, wo er sich bei Milwaukee im Staate Wisconsin ankaufen wollte. Doch auch er starb – noch während die Kaufverhandlungen liefen – im Juli 1854 an der Cholera.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – wann, das wissen wir nicht – wanderte auch Hans6.1)(6) nach Amerika aus, wurde Farmer in Muscatine im Staate Iowa und starb dort 1931 kinderlos verheiratet im Alter von 73 Jahren.
Der einzige Landwirt, der sich nach vierzigjähriger Tätigkeit als Import-Export-Kaufmann in Antwerpen als Farmer in Colorado niederließ und dessen Nachkommen noch zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches in Del Norte im Staate Colorado eine (verpachtete) Bernuthsche Farm gehört, war GeorgIII 3.7). Er war ein Sohn des Weseler Landrats Fritz.

* * *

Das Kapitel 'Auswanderer' wäre unvollständig behandelt, wenn nicht noch zwei Bernuths erwähnt würden, die Preußen ebenfalls verlassen haben, ohne nach Übersee gegangen zu sein: Louis4.8), Sohn des Oberlandesgerichts-Chef-Präsidenten Karl4., lernte Landwirtschaft auf der Landwirtschaftlichen Akademie zu Hohenheim bei Stuttgart, war dann von 1841 bis 1844 in leitender Beamtenstellung auf den Gütern des Herzogs von Beaufort-Spontin in Belgien und Niederösterreich tätig, und von 1845 bis 1855 generalbevollmächtigter Direktor der Rothschildschen Herrschaften in Preußisch-Oberschlesien. Im Jahre 1855 verließ er mit Ruhegehalt diese Stellung und siedelte in die Steiermark nach Österreich über, wo er die Eisengewerkschaft Hohenmauthen an der Drau kaufte. 1859 trat Louis in den Dienst der österr. Südbahn-Gesellschaft, wurde Chef der Materialverwaltung und verlegte seinen Wohnsitz nach Wien. Von seinen drei Söhnen blieben zwei unverheiratet, einer starb kinderlos.
Der zweite Auswanderer, der in Europa blieb und später in Antwerpen ein erfolgreicher Versicherungsmakler wurde, war MathiasIII 3.1)(1). Er war ein Enkel des Weseler Landrats Fritz und gehörte somit ebenfalls zur 'zweiten' Auswanderer-Generation. Als genealogisch ältestes Mitglied der Bernuthschen Familie war er in Besitz des Original-Adelsbriefes, der fünf Clever Bilder und anderer für unsere Familie wichtiger Erinnerungsstücke, die sein Sohn WaltherIII 3.1)(1)a in Veere, Holland, erbte und die aufgrund einer testamentarischen Verfügung nach dessen Tod im Jahre 1977 von seiner Witwe Hanny dem Vorstand unseres Familienverbandes übereignet wurden.


1.4.3 Verwandtschaftliche Kontakte mit den Ausgewanderten

So ausführlich das 'Grüne Buch' auf seinen insgesamt 250 Seiten die Geschichte unserer Familie, viele Lebensläufe, Stammreihen eingeheirateter Bernuth-Ehefrauen und Erlebnisse einzelner während des Ersten Weltkrieges schildert – ein Kapitel über die Auswanderung der Bernuths, der dazu führenden Gründe und Hintergründe, fehlt vollständig. Auch über die Ausgewanderten selbst sind kaum mehr als die wichtigsten genealogischen Daten festgehalten.
Es stellt sich daher die Frage nach Art, Umfang und Intensität der verwandtschaftlichen Kontakte, die zwischen den ausgewanderten und den in Deutschland verbliebenen Familienmitgliedern bestanden. Aus mündlichen und schriftlichen Überlieferungen wissen wir, daß bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges viele Besuche amerikanischer Bernuths in Deutschland stattgefunden haben; besonders häufige Deutschland- und Europareisen hat FritzIII 9.6) unternommen. Auch zur Goldenen Hochzeit seines Bruders BernhardIII 9.5)(-Borowo) am 26. Mai 1907 war er mit seiner Tochter LouiseIII 9.6)(5) nach Borowo gekommen. Sein dritter Sohn FritzIII 9.6)(3) verbrachte nach Abschluß seiner schulischen Ausbildung fünf Jahre von 1882 bis 1887 in Deutschland, davon drei Jahre in einem Bremer Handelshaus, eineinhalb Jahre bei Hardt & Co. in Berlin und ein halbes Jahr bei Johann Wülfing & Sohn in Lennep.
Auch LouisIII 5.2)(1) besuchte Deutschland häufig mit seiner Familie. Als er im November 1907 bei seinem Bruder FritzIII 5.2)(5) in Koblenz zu Besuch war, starb er im Hotel, und seine Frau Paula, geb. Steinway, ließ seinen Leichnam im Bleisarg nach Amerika überführen.
Doch auch Besuche der deutschen Bernuths in Amerika fanden statt. So fuhr z.B. OttoIII 9.5)(7), Sohn von Bernhard-Borowo, im Jahre 1903 unmittelbar vor seiner Verlobung mit Ellinor Haarhaus auf Einladung seines Onkels Fritz für einige Wochen nach Amerika.
Im Jahre 1929/30 war EberhardIII 5.2)(5)d schwer erkrankt. Seine Patentante PaulaIII 5.2)(1), geb. Steinway, aus New York übernahm die Kosten für eine Operation bei dem berühmten Professor Sauerbruch in Berlin und lud Eberhard anschließend zu einem halbjährigen Erholungsaufenthalt nach Amerika ein.

MathiasIII 3.1)(1) aus Antwerpen und seine Familie fühlte sich ebenfalls dem deutschen Familienzweig verbunden. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Familienverbandes im Jahre 1911, und seine beiden Söhne Walther und Willy studierten in München, bevor beide bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Freiwillige in das deutsche Heer eintraten.
Die deutsche Eroberung Antwerpens und eine dadurch ausgelöste Bedrohung von Mathias geschäftlichen Betätigungen lösten ihrerseits eine ungeschickte Verhaltensweise von Mathias aus, die in Deutschland von den patriotischen Verwandten nicht verstanden werden konnte. Er und seine Familie wurden daraufhin bereits Ende 1914 aus dem Familienverband ausgeschlossen. Erst als sein Sohn Walther und dessen Frau Hanny Anfang der sechziger Jahre von sich aus den Kontakt zur deutschen Familie suchten und am Familientag 1965 in Kassel teilnahmen, wurden beide auf eigenen Wunsch wieder in den Familienverband aufgenommen, und in den Folgejahren entwickelte sich ein herzliches Verhältnis zwischen ihnen und vielen der deutschen Bernuths.
Bis zum Ersten Weltkrieg bestand vermutlich neben den persönlichen Kontakten zwischen den nach Amerika ausgewanderten und den in Deutschland gebliebenen Familienmitgliedern ein reger Briefwechsel. Die fast vollständigen genealogischen Daten der amerikanischen Bernuths in den Gothas der Jahre 1912, 1914, 1916 und 1918 legen jedenfalls diese Vermutung nahe.
Der Erste Weltkrieg unterbrach diese verwandtschaftlichen Bindungen für viele Jahre. Durch den Eintritt der USA in den Krieg entstand in Amerika eine starke deutschfeindliche Stimmung, und das Tragen eines deutschen Namens, noch dazu eines adeligen, konnte besonders im Geschäftsleben nachteilige Folgen für den Träger haben. OskarIII 3.5)(4), der erfolgreichste Bernuthsche Kaufmann in Amerika, war allerdings der einzige Bernuth, der damals das Adelsprädikat für sich und seine Familie vollständig ablegte. Sein zweiter Sohn Charles fügte es fast fünfzig Jahre später, nach seiner endgültigen Übersiedlung nach Rom im Jahre 1965, seinem Namen wieder hinzu.
In den zwei Jahrzehnten zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hatten sich die Beziehungen zwischen einigen amerikanischen Bernuth-Familien zu den deutschen Verwandten wieder normalisiert; wir wissen von regelmäßigen Europa- und Deutschlandreisen von Paula, der Witwe von LouisIII 5.2)(1), mit ihrer Tochter Meta bis zu Paulas Tod im Jahre 1931. Auch später, zumindestens bis in die Jahre 1935/36, hat brieflicher Kontakt zwischen deutschen und amerikanischen Bernuths bestanden. Dies geht z.B. aus den 'von Bernuth'schen Familienblättern' hervor, in denen Lucia, die Frau von BernhardIII 9.5)(3)(-Heinzendorf), über das Ergehen von Bernuthschen Verwandten aus New York berichtet.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren es vor allem die soeben erwähnte MetaIII 5.2)(1)a sowie CarlIII 3.2)(2)b und seine Schwester Lecian, die durch CARE-Pakete die wirtschaftliche Not einiger deutscher Bernuths linderte; Empfänger dieser segensreichen Hilfssendungen waren Anita, die Witwe von Metas Vetter Hans-JoachimIII 5.2)(5)c, und ihre Schwägerin AnnelieseIII 5.2)(5)a Krause-Dünow, die damals beide kleine Kinder hatten. Carl und Meta hatten über viele Jahrzehnte hinweg bis kurz vor ihren Tod im Jahre 1959 bzw. 1980 in schriftlicher Verbindung mit deutschen Vettern und Cousinen gestanden und waren zusammen mit Lecian von den amerikanischen Verwandten diejenigen, die das größte Interesse an der Familie besaßen. Lecian hat trotz ihres hohen Alters mit wachem Interesse von ihrem Haus in Wayne aus, in dem sie während der letzten Jahre ans Bett gefesselt war, an den Vorbereitungen zum Großen Familientag 1986 und am Entstehen des Bernuth-Buchesw Anteil genommen.
Auf dem fünften Familientag nach dem Zweiten Weltkrieg, 1963 in Kassel, nahmen erstmals fünf Bernuths aus Amerika teil: Elizabeth, die Witwe von CarlIII 3.2) (2)b, sowie CharlesIII 3.5)(4)b mit seiner ersten Frau Shirley und den Töchtern Toni und Patricia. In den folgenden Jahren vertieften sich die persönlichen Kontakte auch durch Besuche und längere Aufenthalte von deutschen Bernuths in Amerika. So studierte z.B. Götz5.1)(6)a4 von Oktober 1965 bis Ende 1970 an der Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota, und besuchte verschiedene Bernuthsche Verwandte während dieser Zeit. 1972 war Wolf DietloffIII 9.5)(7)c2 mit seiner Frau Ute auf der ersten Reise in den USA und nahmen in New York Kontakte mit Bernuthschen Verwandten auf.
Die Sammlung und Ergänzung der genealogischen Daten wurde zunächst Ende der sechziger Jahre von GertrudIII 9.5)(3)e auf schriftlichem Wege und im Sommer 1978 von Wolf DietloffIII 9.5)(7)c2 und Ute auf einer dreiwöchigen Autoreise von Miami in Florida bis hinauf in den Staat New York betrieben. Seit dem Jahre 1979 informiert Wolf Dietloff alle amerikanischen Verwandten durch einen regelmäßig zum Jahresende verschickten 'Family Letter' über Ereignisse von allgemeinem Familieninteresse, wie z.B. Familientage, persönliche Nachrichten und Anschriften-Änderungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Die inzwischen durch häufige gegenseitige Besuche und Kontakte in beiden Richtungen sowie die geplante Teilnahme von über zwanzig amerikanischen Bernuths am Großen Familientag zeigt, daß die Verbindungen zwischen beiden Familienzweigen – vor allem auch in der jüngeren Generation – als gut und eng bezeichnet werden können.

* * *

1.4.4 Liste der Bernuthschen Auswanderer (in chronologischer Reihenfolge)

Nr. Vorname Ausreise Alter Zielland Bemerkungen
1. Ernst 4.3) 1836 26 Texas,USA gab Stelle als Reg.-Referendar in Münster wegen Schwerhörigkeit auf und wollte Farmer werden; starb kurz nach Ankunft
2. Gustav III3.3) 1853 25 Wisconsin,USA erlernte in Preußen Landwirtschaft; wollte sich bei Milwaukee ankaufen, starb während der Verhandlungen an Cholera
3. Carl III3.5) 1855 23 New York, USA Kaufmann in New York; viele lebende Nachkommen
4. Georg III3.7) 1854 19 Belgien Import-Export-Kaufm. in Antwerpen; 1894/1897 Colorado, USA, kaufte in Del Norte eine Farm; viele lebende Nachkommen
5. Louis 4.8) 1855 37 Österreich war Landwirt, wurde in Österreich Unternehmer bzw. leitender Angestellter; Linie im Mannesstamm erloschen
6. Fritz III9.6) 1855 21 New York, USA Kaufmann in New York; Linie im Mannesstamm erloschen
7. Rudolf III3.10) 1860 20 Belgien Kaufmann, England, Japan, 1867 New York, USA; Nachkommen
8. Louis III5.2)(1) 1872 16 New York, USA Kaufmann bei Hardt & Co. und Steinway & Sons in New York; Linie im Mannesstamm erloschen
9. Oskar III5.2)(2) 1875 18 New York, USA Kaufmann bei Vietor & Achelis und Neidlinger & Son; Nachkommen
10. August III3.2)(2) 1875 17 New York, USA Kaufmann bei Hardt & Co. und Stetson & Co; Nachkommen
11. Mathias III3.1)(1) 1878 18 Belgien Kaufmann in Antwerpen; Sohn Walther ging nach Holland; keine Nachkommen
12. Hans 6.1)(6) vor 1906 ? Iowa, USA Farmer; keine Nachkommen

* * *

1.5 Bürgerliche Bernuth-Linien

Neben der Blauen und Roten Linie gibt es mindestens vier Linien, die den bürgerlichen Namen Bernuth führen, und von denen zwei nachweislich in engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Mitgliedern der Blauen und Roten Linie stehen. Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß die in den entsprechenden Kapiteln der Genealogie enthaltenen Angaben unvollständig und u.U. auch fehlerhaft sein können.


1.5.1 Gottfried-Heinrich-Linie

Die Brüder Johann Matthias und Jakob Christian aus Groß Rosenburg, die Stammväter der Blauen und Roten Linie, hatten noch weitere Geschwister, wie aus der Genealogie in Kapitel 2 ersichtlich ist. Davon lebte jedoch im Jahre 1786, d.h. zum Zeitpunkt der Adelsverleihung, nur noch ein unverheirateter Bruder, Christoph Friedrich, als Kammersekretär in Cleve. Der einzige uns bekannte Bruder mit Nachkommen, Gottfried Heinrich, war 1721 geboren, d.h. genau zwischen Johann Matthias (1716) und Jakob Christian (1726). Gottfried Heinrich stand nicht in königlich preußischen Diensten; vielmehr war er fürstlich anhaltisch-zerbstscher Hof- und Regierungsbuchdrucker in Zerbst. Er starb im Februar 1786, also vor der Adelsverleihung an seine beiden Brüder. Von ihm stammt die in in Kapitel 2.4.1 dargestellte bürgerliche Linie ab, von der der Kunstmaler Max Bernuth als herausragende Künstlerpersönlichkeit stellvertretend für alle Mitglieder der bürgerlichen Linien durch Wiedergabe seines Lebensbildes gewürdigt werden soll:

GH 1.1)(3)d    Friedrich Albin Max Bernuth, * Leipzig 26.7.1872, + Bayerisch Gmain 1.4.1960, Kunstmaler, Professor an der Kunstgewerbeschule Wuppertal-Elberfeld;
oo Innsbruck, Österreich 5.11.1901 Emilie Beate Elise Pötter, * Hann. Münden 25.8.1876, + Bayerisch Gmain 25.2.1963, T.d. Tischlers Christoph P. u.d. Albertine Hulda Zwade

Kinder:
GH 1.1)(3)d1    Walter 1902-1987        oo Adele Eberhardt 1904-
GH 1.1)(3)d2    Fritz 1904-1979            oo Susanne Sardemann 1900-1977
GH 1.1)(3)d3    Rosel 1910-

Im Kreise seiner sieben Geschwister war Max Bernuth eine sogenannte Frühbegabung in der Malerei. Nachdem er die sächsische Bürgerschule durchlaufen hatte, machte er um 1886 eine Lithografenlehre durch, zu einer Zeit, als an das zeichnerische Können der Steinzeichner die höchsten Anforderungen gestellt wurden. Die Leipziger Akademie sagte ihm, dessen große Begabung man schnell erkannte, ein Stipendium zu. Mit Hilfe von Max Klinger fand sich ein Mäzen, der Max das Studium an der vorzüglichen Münchener Akademie ermöglichte.
In München wurde er schnell heimisch und erhielt als Schüler von Professor Liezen-Mayer Belobigungen und Auszeichnungen. Doch es kamen auch Notzeiten in München, denn Max Bernuth war zu keinen Publikumskonzessionen bereit, und das Stipendium war begrenzt. Zur rechten Zeit wurde die Kunstzeitschrift 'Münchener Jugend' begründet und Bernuth zum Mitarbeiter erwählt. Hinzu kam seine Beteiligung an Ausstellungen in Elberfeld und ein Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule. Die Jahre 1894 bis 1902 waren die wichtigste menschliche und künstlerische Epoche in Bernuths Leben. Er unternahm Studienreisen in den damals noch völlig unberührten Bayerischen Wald, wo er in den Glashütten und unter Holzfällern Lithographien und Zeichnungen schuf, die zum Teil in der 'Münchener Jugend' erschienen. Dann ließ er sich in Innsbruck nieder, wo eine äußerst kritische, aber hochkünstlerische Atmosphäre herrschte.
Ein Jahr nach seiner Hochzeit wurde Max Bernuth von Direktor Mayer an die Elberfelder Kunstgewerbeschule berufen, wo er später unter dem bewährten und beliebten Nachfolger, Professor Otto Schulze, als Professor der figürlichen Klasse bis 1932 wirkte. Klinger, Otto Greiner und Menzel beeinflußten Bernuths Kunst bahnbrechend, ohne daß er sich aber an diese Künstler anlehnte; dazu war er zu stolz und eigenwillig. Sein Philosophie-Ideal war Schopenhauer, sein literarisches Interesse galt neben des Klassikern vornehmlich Shakespeare, Homer, Dante, Cervantes und Grimmelshausen. Gern deklamierte er den ganzen ersten Teil von Goethes Faust auswendig oder Teile von Dante und Shakespeare. Portraitaufträge, u.a. von Geheimrat Bayer (dem Gründer von Bayer-Leverkusen), und Verkäufe von Genre- und Tierbildern brachten der Familie einen gewissen Wohlstand und eine Villenwohnung inmitten eines verwunschenen Parks. Hauskonzerte waren jede Woche an der Tagesordnung. Die Begabung für Symbole brachte ihm manchen Auftrag als Buch-Illustrator und Ex-Libris-Zeichner ein. Sein Unterricht an der Kunstgewerbeschule war gewürzt mit Ruppigkeit, Schalk, Witz, aber auch mit Lob. Er war immer ein guter Sportler und ausgezeichneter Schlittschuhläufer; noch mit achtzig Jahren wagte er sich als Kunstläufer auf das Eis. In Bayern hieß er der 'Eisprofessor'. Nur die Kraft der Augen ließ nach, so daß er fast blind im hohen Alter von 88 Jahren starb.

Seine beiden Söhne wurden ebenfalls Künstler: Walter wurde Kunstmaler und Lehrer an der Elberfelder Kunstgewerbeschule; Fritz war Bildhauer.


1.5.2 Johannes Bernuth

Im Kirchenbuch der ev. Gemeinde von Bielefeld-Altstadt ist im November 1780 die Hochzeit eines Tagelöhners Johann Ludwig Bernuth registriert, als dessen Vater Johannes Bernuth erwähnt wird. Vorfahren und Nachkommen sind unbekannt (siehe auch Kapitel 2.4.2).


1.5.3 Karl-Friedrich Bernuth

Die Wurzeln der Karl-Friedrich-Linie verlieren sich vor etwa 1770 in Groß-Schönebeck/Schorfheide in der heutigen DDR. Wenige Nachkommen leben noch heute in der Bundesrepublik Deutschland (siehe auch Kapitel 2.4.3). Darunter ist nur ein noch unverheirateter männlicher Namensträger, der die uns bisher bekannten bürgerlichen Linien im Mannestamm fortsetzen könnte, sodaß mit dem Aussterben der bürgerlichen Linien gerechnet werden kann, wenn nicht noch bisher unbekannte Namensträger ermittelt werden.

* * *

Für die Linien des Johannes und Karl-Friedrich, die sich zeitlich etwa gleich weit zurückverfolgen lassen, könnten neben möglichen weiteren, bisher nicht ermittelten Kindern von Gottfried Heinrich als Anschlußpunkte der Groß Rosenburger Stammlinie evtl. in Frage kommen:

        - Baltfried Barnuht                        B            1657- ?
        - Christian Friedrich Bernuth         D1.         1688- ?
        - Johann Georg Barnuht                A4.         1697- ?
        - Christian Friedrich Bernuth         D6.         1700- ?

Bei diesen männlichen Mitgliedern der Groß Rosenburger Stammlinie fehlen uns nähere Angaben über Ehefrau (sofern vorhanden), evtl. Kinder und Tod. Vielleicht gelingt es zukünftigen Familienforschern, diese Lücken zu schließen.


1.5.4 Hans Harry Bernuth

Der im Jahre 1891 nichteheliche geborene und später in Stuttgart wegen Unterschlagungen verurteilte kaufmännische Angestellte Hans Harry BernuthIII 5.1)(3)a war nach einem längeren Rechtsstreit, den das Deutsche Adelsarchiv und der von Bernuth'sche Familienverband gemeinsam geführt hatten, nach einem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 30. März 1955 nicht zur Führung des Adelsprädikates berechtigt, weil
-    dieses bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 14. August 1919 kein Bestandteil des Familiennamens war und ein unehelicher Abkömmling einer Adelsfamilie den Mutternamen ohne Adelsprädikat zu führen hatte,
-    von einer zeitlich begrenzten Ausnahmegenehmigung, während der durch Erklärung vor dem Standesbeamten des Geburtsregisters das Adelsprädikat von als Namensbestandteil angenommen werden konnte, kein Gebrauch gemacht worden war.
Hans Harry Bernuth und seine Nachkommen sind in Kapitel 2.4.4 genealogisch dargestellt. Auch diese bürgerliche Linie wird sich im Mannesstamm nicht fortsetzen.


1.6 Zwei Weltkriege

Bernuthsche Offiziere haben an allen Kriegen seit Napoleons Eroberungen in Zentraleuropa teilgenommen; Opfer infolge von Kriegen waren bis zum Ersten Weltkrieg innerhalb der Blauen und Roten Linie nicht zu beklagen. Erst die beiden großen Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts haben von unseren Familien Menschenleben gefordert.
Am Ersten Weltkrieg nahmen dreiundzwanzig männliche Namensträger der Blauen und Roten Linie aktiv teil, davon zwölf von der Blauen Linie und elf von der Roten. Auch viele Bernuthsche Frauen und Töchter stellten sich für die Arbeit in den Lazaretten zur Verfügung.
Ihr Leben für Kaiser und Reich ließen sechs Bernuthsche Väter, Ehemänner, Brüder oder Söhne, deren Namen in Kapitel 6 festgehalten sind.
Die politischen Folgen des Ersten Weltkrieges waren besonders hart für die Borowoer Bernuths: die seit über hundert Jahren preußische Provinz Posen wurde im Versailler Vertrag größtenteils an die Republik Polen abgetreten. Das bedeutete für Borowo: es lag neben Kreuzfelde als einziges Bernuthsches Gut nach 1919 in Polen. Abgesehen von der Notwendigkeit, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um den Besitz der Familie zu erhalten, hatte dies auch viele Erschwernisse im täglichen Leben zur Folge. Weil Polen schon damals knapp an Devisen war, wurden z.B. Reisen ins Deutsche Reich, in dem alle Verwandten wohnten, nur selten und nach Überwindung großer bürokratischer Hindernisse genehmigt.
Welche tief einschneidenden Veränderungen jedoch der Zweite Weltkrieg und seine Folgen neben den großen Menschenopfern für viele unserer Familien mit sich brachte, mag die nachfolgende Gegenüberstellung verdeutlichen:

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten ...
   ... im Bereich der heutigen Bundesrepublik Deutschland

     2  Bernuthsche Familien bzw. Ehepaare
     1  alleinstehende Bernuthsche Witwe
     6  ausgeheiratete Bernuth-Töchter, z.T. mit ihren Familien

   ... und im Gebiet des heutigen Berlin (West)

     3  Bernuthsche Familien bzw. Ehepaare
     1  alleinstehende Bernuthsche Witwe


   ... dagegen im Bereich der heutigen DDR einschließlich Ost-Berlin

     3  Bernuthsche Familien bzw. Ehepaare
     6  alleinstehende Bernuthsche Witwen bzw. Witwer
     4  ausgeheiratete Bernuth-Töchter mit ihren Familien

   ... und im Bereich der heutigen Volksrepublik Polen

     8  Bernuthsche Familien bzw. Ehepaare
     4  ausgeheiratete Bernuth-Töchter mit ihren Familien

Der Lebensraum der weitaus überwiegenden Zahl der deutschen Familienmitglieder lag demnach vor 1939 im heutigen kommunistischen Machtbereich.
Dies hatte zur Folge, daß viele Familienmitglieder die Flucht vor den Russen ergreifen mußten, um wenigstens ihr Leben und einige Habseligkeiten zu retten.


1.6.1 Flucht vor den Russen

Von Januar bis März des eiskalten, schneereichen Winters 1944/45 mußten vor den herannahenden russischen Truppen fliehen und die Heimat verlassen (in chronologischer Reihenfolge des Aufbruchs zur Flucht):

KatharinaIII 9.5)(7)c mit den beiden älteren Kindern Gisela und Wolf Dietloff von dem Borowo benachbarten Gut Hessenhof (Szoldry). In überfüllten Militärzügen begann die erste Fluchtetappe am Freitag, dem 19. Januar 1945 abends in Czempin – etwa zwanzig Kilometer südlich von Posen – und endete nach einem Umweg über Breslau zwei Tage später in Kröchlendorff/Uckermark in Katharinas Elternhaus, wohin die beiden kleineren Kinder Dagmar und Helga schon einige Monate vorher gebracht worden waren.
Nachdem der einen Tag später aufgebrochene Treck ihres Schwiegervaters Otto aus Borowo später auch für eine kurze Zeit in Kröchlendorff Station gemacht hatte und die in größter Eile von Katharina vor ihrem Aufbruch gepackten elf Kisten mitgebracht hatte, brach Katharina am 1. März 1945 mit ihren vier Kindern, begleitet von ihrer Schwägerin und deren Säugling, im eigenen Treck in Richtung Westen wieder auf.
Nach neun Zwischenstationen – die 300 Kilometer lange Strecke wurde in sechzehn Wochen zurückgelegt – erreichte der Treck am 22. Juni 1945 das von Flüchtlingen bereits überfüllte Haus von Walther und Hedwig-Maria Drewsen in Lachendorf bei Celle. Zufällig am gleichen Tag traf Katharinas Mann Wolf, aus der Kriegsgefangenschaft als Landwirt vorzeitig entlassen, in Lachendorf ein – welch ein Wiedersehen!
Von Lachendorf aus, wo sich Wolfs sechsköpfige Familie mit der dreiköpfigen Familie seines Schwagers Detlev von Arnim ein Zimmer teilten, zog Wolf mit seiner Familie sechs Wochen später nach Hohenhameln im Kreis Peine, von wo aus er Ostern 1946 nach Förste am Harz, Kreis Osterode, umsiedelte. Dort hatte er eine Stelle als Verwalter auf dem Gut des Barons Hans von Oldershausen gefunden.
Hatte Wolf damit für sich und seine Familie als sog. 'Selbstversorger' im Verhältnis zu den meisten anderen Flüchtlingen schon bald nach Kriegsende einen relativ geordneten wenn auch bescheidenen Lebensstandard erreicht, so versuchten er und Katharina bald, das niedrige Bargehalt durch Nebeneinkünfte aufzubessern. Nebeneinkünfte aus Tabakanbau auf Pachtland und Stricken von Maßstrümpfen ermöglichten z.B. den beiden älteren Kindern Internatsaufenthalte. Auch das Schreiben von Artikeln für landwirtschaftliche Fachzeitschriften und die Anlage eines umfangreichen Fachfotoarchivs entwickelten sich bald so günstig, daß Wolf sich als Agrarjournalist selbständig machte und die Familie am 1. Juni 1953 in das als 'landwirtschaftliche Nebenerwerbssiedlung' gebaute Haus nach Isernhagen-Süd am nördlichen Stadtrand von Hannover umsiedeln konnte.

* * *

OttoIII 9.5)(7) verließ mit seiner Frau Ellinor und der erwachsenen Tochter Erika das Gut Borowo in der Nacht vom 20. zum 21. Januar 1945. Mit elf Treckwagen, von zweiundzwanzig Pferden gezogen und einigen polnischen Leuten freiwillig begleitet – der Treck wurde unterwegs mehrfach getrennt –, treckten sie mit einem kurzen Aufenthalt in Kröchlendorff bei Katharinas Eltern in zwei Monaten über 840 Kilometer nach Futterkamp, Kreis Plön in Ostholstein, wo sie am 21. März eintrafen. Die Polen kehrten von hier aus nach Borowo zurück.
Sieben Jahre, bis zum 7. Mai 1952, lebten Otto und Ellinor im Inspektorenhaus auf dem Gut des Grafen Platen und zogen dann in eine größere Wohnung nach Pinneberg nördlich von Hamburg, in eine ältere Villa, um, die einem Vetter von Ellinor, Hermann Wuppermann, gehörte. Otto beschäftigte sich in den folgenden Jahren intensiv mit Fragen des 'Lastenausgleichs'.
Der gemeinsame Plan, in Wiesbaden eine Eigentumswohnung zu erwerben, wurde durch Ellinors Tod im November 1958 hinfällig. Otto zog nach dem Tod seiner Frau nach Hannover um, wo er

* * *

LuciaIII 9.5)(3), ihre beiden Schwiegertöchter Erika mit den Kindern Oda und Dietlind sowie Gertrud mit den vier Kindern Armgard, Margot, Harald und Dietmar verließen Heinzendorf in einem 'Sonderzug' am 22. Januar 1945 mit der restlichen Dorfbevölkerung. Zwei Tage vorher war ein unter der Verantwortung des Gutes zusammenstellter Treck – nur mit Kranken, Wöchnerinnen und Müttern mit Kleinkindern – unter der Betreuung zweier Diakonissen bei bitterer Kälte nach Westen aufgebrochen. Diesem Treck schlossen sich ein Teil der Bauern an. So standen nun keine leistungsfähigen Pferde und geeignte Wagen mehr zur Verfügung. Es war der Initiative von Erika zu verdanken, daß dieser letzte Zug von Guhrau aus, bestehend aus drei Viehwaggons und Lokomotive, zur Evakuierung der Heinzendorfer und Kraschener Bevölkerung unter erheblichen Schwierigkeiten bereitgestellt wurde. Da keine verantwortlichen Dienststellen mehr erreichbar waren, war es ihrem energischen und verantwortungsbewußten Auftreten zu verdanken, daß der telefonisch benachrichtigte Bahnhofsvorsteher in Guhrau diesen letzten Zug noch kurz vor dem Einmarsch der Russen nach Heinzendorf schickte. Er passierte als letzter Zug die Oderbrücke bei Steinau vor ihrer Sprengung.
Die erste Fluchtetappe führte auf ein Scherzsches Gut nach Kliestow bei Frankfurt/Oder. Hier trennte sich die Gruppe: Gertrud fuhr nach einigen Tagen mit ihren Kindern und der Schwiegermutter Lucia über Berlin nach Lachendorf bei Celle weiter, wo man am 9. Februar im Hause von Walther und Hedwig-Maria Drewsen eintraf.
Lucia blieb bis zu ihrem Tode im Jahre 1961 bei ihrer Tochter Hedela Drewsen in Lachendorf wohnen und beschäftigte sich bis in ihr hohes Alter mit einer umfangreichen Korrespondenz und dem Schreiben von Ahnentafeln, um für ihre Nachkommen verlorengegangenes Text- und Bildmaterial für genealogischen Fragen wiederzubeschaffen.
Erika mit ihren Töchtern traf nach einer mehrwöchigen Zwischenstation auf dem Gut ihres Vetters Lothar Graf von der Asseburg-Falkenstein-Rothkirch in Meisdorf am Harz, wohin sie von Kliestow aus gefahren war, am 8. April ebenfalls in Lachendorf ein und fand Aufnahme im Drewsenschen Haus. Neun Wochen später, am 13. Juni, kam auch ihr Mann Bernhard nach wochenlangen Fußmärschen in Lachendorf an, und die Familie war wieder vereint.
Unter dem Dach von Hedela und Walther Drewsen lebten zeitweise fünfzehn Bernuths, drei Arnims, vier Hammersteins, deren Lachendorfer Haus von den Engländern besetzt war, und die Familie Drewsen selbst. Die Drewsensche Papierfabrik war 1943 stillgelegt worden. Dadurch und wegen des damals eingeleiteten Entnazifizierungsverfahrens hatte Walther Drewsen nur eine minimale Pension. Mit dem Verkauf von im Gewächshaus gezogenen Tomaten und anderen Pflanzen, von Gemüse und Blumen und Tausch von Restbeständen des Papiers – z.B. gegen Brot – wurde die schwere Zeit überbrückt. Erst ab 1947, nachdem in der Fabrik die Produktion wieder aufgenommen war, verbesserte sich die Situation. So war es Walther und Hedela Drewsen nicht möglich, ihre Verwandten finanziell zu unterstützen. Sie konnten ihnen nur Unterkunft, Möbel, Wäsche und Geschirr – und für jeden ein silbernes Besteck – zur Verfügung stellen.
Trotz der heute unvorstellbaren Enge im Hause und der wirtschaftlichen Not aller gelang es der Hausfrau Hedela, eine Atmosphäre zu schaffen, die ein Leben unter diesen beengten Umständen über Jahre hinweg ermöglichte. Hedela war als DRK-Bereitschaftsführerin mit der Leitung eines Behelfslazaretts sowie mit anderen Aufgaben voll in Anspruch genommen, so daß die Arbeit in der großen Notgemeinschaft aufgeteilt werden mußte: Erika übernahm gegen freie Kost und Logis ihrer Familie für sechs Jahre die Küche; Gertrud versorgte die Kinder und und kümmerte sich um Lucia; Bernhard half bei Arbeiten in Feld und Garten. So trug er z.B. durch Holzhacken dazu bei, daß das große Haus mit Brennmaterial versorgt wurde. Oda arbeitete von April 1945 für ein Jahr bei Drewsens in Haus und Garten, ehe sie eine ländliche Hauswirtschaftslehre in Lehrte antreten konnte. Bernhard und Erika führten ab 1952 einen eigenen Haushalt, nachdem die Pensionszahlungen auch für ehemalige Offiziere einsetzten und waren von da ab in der Lage, Miete und Strom zu bezahlen. Sie blieben bis zum August 1960 in Lachendorf und bezogen dann ihr mit Lastenausgleichsmitteln in Heeßel bei Burgdorf/Hann. erbautes Haus.
Da Gertrud – wie viele damals – von 1945 bis 1948 keine nennenswerte staatliche Unterstützung erhielt, sorgte sie durch Kartoffelroden, Näh- und Aussbesserungsarbeiten bei den Bauern des Dorfes, durch Beeren- und Pilzsuche und durch den Verkauf von Bastelarbeiten für den Unterhalt ihrer Kinder.
Nach der Währungsreform im Juni 1948 erhielt Gertrud pro Monat 120 DM Witwen- und Waisenrente. Die Aufnahme von Tochter Margot in einer schwedischen Familie trug ebenfalls zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage bei. Gertrud erhielt für die als Auslandsvermögen geltende Farm in Ostafrika und für das Wohnrecht auf Heinzendorf aus Mitteln des Lastenausgleichs keine Entschädigung.
Im Jahre 1960 verließ Gertrud Lachendorf und zog zu ihren drei älteren Kindern nach Frankfurt am Main. Bis in ihr hohes Alter besserte sie ihre Rente durch Tier- und Wappenmalerei sowie durch genealogische Forschungsarbeiten auf.

* * *

MarieIII 9.5)(6) verließ Keßburg mit ihrer erwachsenen Tochter Ingrid am 27. Januar 1945 nach kurzfristigem Räumungsbefehl. Mit einem Treck, der aus einem Planwagen, einer Kutsche und sechs Zugpferden bestand, und der außer wenigen in großer Eile gepackten Habseligkeiten insgesamt vierzehn Personen Platz bieten mußte, führte die erste Etappe über 150 Kilometer nach Vanselow im Kreis Demmin in Vorpommern.
Von dort aus treckten Marie und Ingrid nach St. Wolfgang im Salzkammergut, Österreich, wo Maries ältere Tochter Rudela seit 1943, nach dem Tode ihres Mannes Julius6.1)(7)a, mit ihren drei Kindern Hans-Dietrich, Adelheid und Elsa lebte.
Auf dem Treck, der über insgesamt 1.500 Kilometer führte, sechzig Quartier-Stationen umfaßte und fünf Monate dauerte, wurden die beiden Frauen bis Sachsen von vier freiwillig aus Keßburg mitgefahrenen französischen Kriegsgefangenen begleitet, später von zwei Österreichern, die in ihre Heimat zurückkehren wollten. Der Verkauf der Wagen und der Pferde in St. Wolfgang deckte nur für kurze Zeit die dringendsten Lebensbedürfnisse, sodaß jede sich bietende Arbeit angenommen werden mußte. Rudela verdiente sich Geld mit Musik- und Gymnastikunterricht und unterrichtete ihre Kinder lange selbst. Trotz ihres hohen Alters war Marie oft stundenlang zu entfernten Bauernhöfen unterwegs, um Milch oder Butter zu holen.
Im Jahre 1951 konnte Marie mit ihren Töchtern und Enkeln in ein von ihr selbst entworfenes und von Wolfganger Handwerkern in selbstloser Unterstützung und aktiver Mithilfe aller Familienmitglieder gebautes Haus einziehen, welches der Familie eine neue Heimat wurde.

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EberhardIII 5.2)(5)d. Seine Frau Waltraut war mit den beiden kleinen Söhnen Johann-Matthias und Fritz-Eberhard Anfang Januar 1945 von Schöneiche bei Breslau über Berlin – wo sie einige Tage Station bei ihrer Schwägerin Anita in Potsdam machte – zu ihren Eltern nach Arnsberg in Westfalen gefahren. Nach Auflösung der Front fuhr Eberhard zunächst ebenfalls nach Arnsberg und Ende Februar 1945 mit dem Zug zu seiner Schwester Anneliese Krause-Dünow im Kreis Cammin, Pommern. Von dort aus begleitete er den am 3. März aufbrechenden Treck bis nach Gatersleben bei Quedlinburg am Harz, wohin am 1. April auch schon die gemeinsame Schwägerin Anita mit ihren Kindern aus Potsdam evakuiert worden war.
Anfang Mai kehrte Eberhard nach Arnsberg zurück, wo seine Frau Waldtraut am 11. April durch amerikanischen Artilleriebeschuß tödlich verletzt worden war. Mit beiden Söhnen zog Eberhard bald darauf nach Bonn. Hier heiratete er im Juli seine zweite Frau Elwina und fand in ihrem Elternhaus in Bonn eine neue Heimat.

* * *

AnitaIII 5.2)(5)c lebte mit ihren fünf Kindern Klaus, Götz, Brigitte, Isolde und Volker in Potsdam, als die Stadt im März 1945 Kriegsgebiet wurde und alle Mütter mit Kindern die Stadt verlassen mußten. Am 1. April nahm ein Lastwagen mit Maschinenteilen die Familie und das nötigste Gepäck nach Mitteldeutschland mit, wo Anita und die Kinder in Gatersleben bei Quedlinburg am Harz zunächst auf der Domäne, dann im Dorf und zuletzt im alten Pfarrhaus unterkamen.
Als ihr ältester Sohn Klaus im Mai 1949 von den Russen verhaftet wurde – er war als knapp Zwanzigjähriger wegen 'anti-sowjetischer Propaganda und versuchter Gruppenbildung' zunächst zum Tode, dann zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt worden und wurde schließlich nach über siebenjähriger Haft in der Strafanstalt Bautzen entlassen –, zog Anita mit den anderen Kindern nach Berlin-Dahlem zu ihren Eltern, die selbst beengt untergebracht waren, bis sie im Jahre 1954 mit den Eltern, ihrer Schwester und später auch deren Mann eine neue Wohnung fanden.
Eine besondere Hilfe für Anita und ihre Schwägerin Anneliese Krause-Dünow in den ersten schweren Nachkriegsjahren waren die regelmäßigen Geldüberweisungen von Fritz5.1)(6)(-Bethel) und die Lebensmittelpakete ihrer amerikanischen Cousine MetaIII 5.2)(1)a, mit der sie noch lange Jahre – bis zu Metas Tod im Jahre 1980 – in brieflichem Kontakt standen.

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LiselotteIII 9.5)(2)a erlebte das Kriegsende mit ihrer Tochter Ulrike und ihrer Schwiegermutter Margret in Borgsdorf bei Berlin. Am 3. Mai 1945 besetzten russische Truppen die kleine Stadt; ihr Haus wurde beschossen, geplündert und bis auf ein Zimmer beschlagnahmt. Im Juli wurde Liselotte als ehemaliges NSDAP-Mitglied von den Russen verhaftet, und nach einigen Wochen Aufenthalt im Berliner Polizeigefängnis – mit regelmäßigen nächtlichen Verhören – begann zusammen mit vielen anderen ein Fußmarsch in das ca. 35 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen.
Nach schwerer dreijähriger Lagerzeit wurde Liselotte am 19. Juli 1948 entlassen und erfuhr erst jetzt, daß ihr Mann Arnold im April 1945 bei den Kämpfen um Berlin gefallen war. Ihre Kinder Klaus und Ulrike hatten inzwischen im Rheinland Lehrstellen gefunden, ihre Schwiegermutter war gestorben.
Liselotte blieb zunächst in Borgsdorf, das in der sowjetischen Besatzungszone lag, und arbeitete als Näherin. Ihr Sohn Klaus lernte Landwirtschaft in Moers, Rheinland, und hatte ihre Umsiedlung in den Westen schon vorbereitet, als er während einer Tätigkeit als Werkstudent in Siegburg am 18. Juli 1952 durch Einatmen giftiger Gase tödlich verunglückte. Liselotte zog daraufhin vorübergehend zu Ulrike, die eine Hauswirtschaftslehrstelle in Euskirchen hatte, bis sie in Niederelvenich die Führung eins fünfköpfigen, mutterlosen Haushaltes übernahm. Seit 1956 lebte sie wieder mit Ulrike zusammen in Würzburg.

* * *

Leonie5.1)(3)b1 sowie ihre beiden Schwestern Felicitas und Esther erlebten den Einmarsch der russischen Truppen in der Nacht zum 3. März 1945 auf dem väterlichen Gut Henkenhagen, das mit Flüchtlingen voll belegt war. Sie mußten erleben, wie ihr Vater verschleppt und ihre Mutter durch einen Kopfschuß so schwer verletzt wurde, daß sie wenige Tage später starb.
Die folgenden Wochen und Monate brachten für die drei Schwestern im Alter von 25 bis 21 Jahren unvorstellbares Leid und Entwürdigung. Sie wurden zunächst auf dem Nachbargut Gienow zu Stall- und Feldarbeiten eingesetzt, wohnten aber weiterhin auf Henkenhagen, so daß jeden Morgen in der Dämmerung ein Marsch von drei Kilometern nötig war. Alle Deutschen, besonders Frauen, waren Freiwild, so daß die Schwestern morgens nie wußten, ob sie abends wieder heimkehren konnten. Später hatten sie das Vieh in Henkenhagen zu versorgen – zu melken, zu hüten, Futter zu holen, die Ställe sauberzuhalten und die Schafe zu scheren. Hin und wieder wurden versprengte deutsche Soldaten unter Lebensgefahr für einige Tage mit Nahrung versorgt.
Am 26. Juni 1945, nach fast vier Monaten unter russischen und polnischen Soldaten und den verängstigten, aber nach Möglichkeit helfenden alten Landarbeitern, wurden alle Deutschen, so auch die drei Schwestern, von polnischen Offizieren aufgefordert, das Gut innerhalb von zwanzig Minuten zu verlassen. Einer letzten Gepäck- und Körpervisitation entgingen die Schwestern nur durch Zufall. So zogen sie, ihre schnell zusammengepackten Habseligkeiten auf einem kleinen Handwagen verstaut, mit einem Teil ihrer Arbeiter zu Fuß in Richtung Westen.
In vielen der von deutschen Familien verlassenen Orten auf der Strecke wurde die Gruppe von polnischen oder russischen Familien erneut überfallen und ausgeplündert. Das Übernachten in den Wäldern war stets mit dem Risiko der Entdeckung verbunden. Über Stargard wurde unter großen Strapazen Stettin erreicht. Nach einer letzten Leibesvisitation, bei der viele den letzten Schmuck einbüßten, wurde über eine Notbrücke die Oder überschritten und damit das Gebiet der heutigen DDR erreicht. Dort konnte man auf Bauernhöfen und in Scheunen übernachten.
Mitte Juli erreichte die Gruppe – ab Neubrandenburg auf offenen Waggons der Reichsbahn – bei Wittenberge an der Elbe die Grenze zur englischen Besatzungszone. Hier verloren jedoch die letzten Henkenhagener Arbeiter den Mut und kehrten in Richtung Osten um.
Die Schwestern fanden zunächst Aufnahme in einem Flüchtlingslager, dessen Leiter sie auf die Borowoer Bernuths ansprach. Nach einigen Tagen – Leonie war schwer erkrankt – konnten sie in ein Privatquartier umziehen: bei dem Arzt Dr. Pommeresch, dessen Frau eine geborene von Bernuth zur Großmutter hatte!
Unter der Obhut des Arztehepaares blieben sie mehrere Wochen und sammelten Kräfte. Anfang September brachen sie erneut auf in Richtung Westen; sie wollten ihr Ziel vor Einbruch des Winters erreichen. Doch in Salzwedel erkrankten Felicitas und Esther an Gelbsucht. Glücklicherweise fanden sie hilfreiche Menschen, und nach vier Wochen konnten sie ihre Flucht fortsetzen.
Bei Helmstedt überquerten sie die 'grüne Grenze' in Richtung Westen – gejagt wie die Hasen. Am 5. Oktober 1945, fast sieben Monate nach dem Einmarsch der Russen in Henkenhagen und dem Verlust beider Eltern, erreichten sie ihr Ziel: Hiddenhausen bei Herford in Westfalen, wo Frau von Consbruch, eine Jugendfreundin der Mutter, mit ihrer Familie lebte. Trotz des von Flüchtlingen übervoll belegten Hauses wurden die drei Schwestern liebevoll aufgenommen und blieben eineinhalb Jahre.
In dieser Zeit arbeiteten sie im Haus, Feld und Garten. Dann ging Felicitas als Schwesternschülerin in das Städt. Krankenhaus nach Bielefeld, während Esther in Bethel eine Gärtnerlehre begann. Leonie blieb noch länger in Hiddenhausen und ging im Jahre 1949 nach Schweden. Auf Umwegen landeten Felicitas und Esther in Ingelheim am Rhein, wo beide ihre neue Heimat fanden.


1.6.2 Neuer Anfang

Der Zweite Weltkrieg hat in neun Bernuthschen Familien große Lücken hinterlassen: in vier Familien fehlte der Vater, in einer die Mutter, wodurch insgesamt sechzehn Bernuthsche Kinder ein Elternteil verloren hatten, drei junge Schwestern wurden Vollwaisen; in einer Familie fielen die beiden einzigen Söhne, von denen einer eine junge Witwe hinterließ; in einer anderen Familie fiel ein Sohn und Bruder; eine ältere Bernuth-Frau wurde Witwe. Auch eine der ausgeheirateten Bernuth-Töchter hat ihren Mann im Krieg verloren.
Die Namen der im Krieg gebliebenen Toten aus unseren Familien sind in Kapitel 6 festgehalten.
Der Verlust vieler Familienmitglieder und der Heimat wurde durch die z.T. katastrophale politische und wirtschaftliche Situation im zusammengebrochenen Nachkriegsdeutschland noch verschlimmert. Nur vier Familien mit Kindern blieb der Vater erhalten, so daß die älteren Familienmitglieder und vor allem die jungen Bernuth-Frauen alleine vor oft unlösbar scheinende Aufgaben gestellt waren.
Es war nicht nur die nackte materielle Not, die das Leben in den ersten Jahren nach dem Krieg erschwerte; es waren vielmehr die völlig veränderten Lebensumstände, auf die man sich umstellen mußte. Aus freien, unabhängigen Menschen, die z.T. Besitzer großer Güter gewesen und ein entsprechendes Leben zu führen gewohnt waren – das allerdings auch auf den Gütern ehemals keine aufwendigen Formen angenommen hatte, jedoch persönliche Freiheit in großem Maße garantierte -, waren Menschen geworden, die von der Güte, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft anderer abhängig waren. Auch wenn dieses alles in den meisten Fällen gern gegeben wurde: es war ein schwerer Schock.

Nach den ersten Wochen und Monaten des völligen Niederganges erwachte jedoch bei allen der starke Wunsch, nunmehr mit den unveränderbaren Gegebenheiten fertigzuwerden und nicht nur das Beste daraus zu machen, sondern die alten ideellen Werte – Fleiß, Bescheidenheit, gegenseitige Hilfe und Unterstützung, Unternehmungsgeist – zu reaktivieren und beim Aufbau eines neuen Lebens einzusetzen.
Außer den Aufwendungen für das tägliche Leben, für Wohnen, Essen und Kleidung, galt es, die Ausbildung der heranwachsenden Kinder zu sichern – eine Aufgabe, bei der sich der in vielen Familien fehlende Vater bemerkbar machte und den Müttern oft übermäßige Energie und Kraft abverlangte.
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hatte sich das Leben für die meisten Familien wieder weitgehend normalisiert, man hatte eigene Wohnungen, z.T. sogar wieder eigene Häuser, die Ernährung und Kleidung wurden besser, und die Kinder besuchten höhere Schulen. Ein Vergleich mit dem Leben vor dem Kriege war jedoch in keinem Falle möglich.
In den schweren Jahren nach dem Krieg sind Bernuthsche Familien, die ihre Heimat verlassen mußten, nicht nur von den im Westen ansässigen Verwandten in großzügiger Hilfsbereitschaft unterstützt worden – hier sind besonders Walther und Hedwig-Maria Drewsen in Lachendorf sowie Fritz5.1)(6)a und Agnes in Bethel zu nennen –, sondern auch einige unserer amerikanischen Verwandten haben durch ihre Hilfe in Form von CARE-Paketen ein echtes, langjähriges Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Bernuthschen Familie bewiesen.
Nach dem ersten Familientag nach dem Kriege hat auch der Familienverband im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten eine Reihe von Familienmitgliedern über viele Jahre hinweg zu besonderen Gelegenheiten bedacht.

Mit dem Heranwachsen der kurz vor oder im Kriege geborenen Generation junger Bernuths und deren Eintritt ins Berufsleben normalisierte sich das Leben weiter. Unbelastet von beruflichen Traditionen oder vorhandenem Besitz konnten die jungen Bernuths bei der Berufswahl ihren Neigungen folgen, die – und das ist bei der geschilderten Entwicklung unserer Familie einigermaßen überraschend – bei vielen auf technischem Gebiet lag.
Sechs von vierzehn Bernuth-Männern dieser Generation in Deutschland wurden Ingenieure, bzw. Physiker, drei wurden Ärzte, davon zwei dem Beispiel ihres Vaters Fritz5.1)(6)a(-Bethel) folgend, einer wurde Lehrer, einer Werbefachmann, einer wurde als Besitzer einer Hühnerfarm selbständiger Kaufmann, einer Offizier und einer Verlagsbuchhändler. Bei den unverheirateten Bernuth-Töchtern dieser Generation finden wir folgende Tätigkeiten: eine Dolmetscherin und wissenschaftliche Sekretärin, eine Realschullehrerin, zwei leitende Tätigkeiten in der Modebranche und eine Diplom-Bibliothekarin.

Zwölf der vierzehn Bernuth-Männer dieser Generation sind verheiratet, und die nunmehr jüngste Bernuth-Generation in Deutschland zählt beim Erscheinen dieses Buches, d.h. im Jahre 1986, fünfundzwanzig Köpfe, davon zehn Mädchen und fünfzehn Jungen.

* * *

Das Ferne Haus


Denken muß ich, denken immer wieder
an ein Haus, das fern im Osten steht.
Ringsum duftet weiß und blauer Flieder
und Spiräenschnee im Wind verweht.


Bienen summen durch die Mittagsstille.
Schneeball, Rotdorn blüht im Überfluß.
Der Kastanienkerzen weiße Fülle
liegt als Teppich unter meinem Fuß.


Pirolpfiff huscht durch die Lindenbäume,
Kuckuckruf klingt hell – wie Glockenschall,
und durch meine bunten Kinderträume
zieht das süße Lied der Nachtigall.


Wenn die Dämmrung sanft hernieder dunkelt,
brünstig ruft der Frösche Chor von fern,
hoch am wolkenlosen Himmel funkelt
klar und feierlich der Abendstern.


In des weißen Hauses stillen Frieden
- sanft geborgen wie im Mutterarm -
manches Jahr voll Glück war uns beschieden,
Heimatglück, so fest gefügt und warm.


Leuchtend lag in den besonnten Räumen
manchen Teppichs bunte Farbenpracht.
Und wie ließ es sich so wohlig träumen
am Kamin in kalter Winternacht!


Blieb kein Lachen an den Mauern hängen?
Nicht ein Echo vom geliebten Schritt?
All die Fragen, die das Herz bedrängen,
ziehn durch unsere grauen Tage mit.


Blicken heute noch von jenen Wänden
Ahnenbilder in die neue Zeit?
Oder hat der Krieg mit rauhen Händen
dieses Hauses Seele auch entweiht?


Daß es nun entgöttert und verlassen
heimlich lauscht auf unsre Wiederkehr?
Ach! Wir ziehn dahin auf fremden Straßen,
denn wir haben keine Heimat mehr ...


Ellinor III 9.5)(7) v. Bernuth, 1952




Inhaltsverzeichnis
(Es folgt das Inhaltsverzeichnis des Bernuth-Buches ab Kapitel 2)

2 - Genealogien 81
3 - Lebensbilder 151 4 - Die Adelsverleihung im Jahre 1786 381 5 - Der 'von Bernuth'sche Familienverband e.V.' 403 6 - Opfer der beiden Weltkriege 439 7 - Universitäten, Männerbünde, Ordensträger 443 8 - Berufsspiegel 465 9 - Stammreihen eingeheirateter Bernuth-Ehefrauen 479 10 - Interfamiliäre Beziehungen 505 11 - Der Familienname 511 12 - Verschiedenes 539 13 - Historischer Anhang 551 14 - Familienhistorisch wertvolle Gegenstände 575 15 - Anschriftenverzeichnis des Familienverbandes 601 16 - Ergänzende Literaturhinweise 607 17 - Stammbaumweiser 611 18 - Namensverzeichnis gebürtiger Familienmitglieder 629

19 - Gesamt-Namensverzeichnis 647 Nachwort 673